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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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ein wüster Rosenschmuck auf den Riemchen, die sicher tief ins Fleisch schnitten, wenn man die Dinger ein paar Stunden trug
    Tell me, are you married? Der Verkäufer richtete mit drei Fingern eine der quietschrosa Kunstlederrosen, als könnte seine Sorgfalt ihre Entscheidung beeinflussen. Sicher lenkte er auch sein Auto mit drei Fingern und trank so seinen süßen Pfefferminztee im Glas. Sicher hatte er nicht viel mehr Geld als sie, aber eine junge Frau, die er manchmal wie Glas oder ein Lenkrad anfasste. Vera schaute über seine Schulter. Die Häuser drüben beim Sainsbury’s würden ab dem späten Nachmittag noch schwärzer als sonst vor dem Himmel stehen und die Leuchtreklamen noch strahlender leuchten. Eine Gruppe Mädchen lief vorbei. Sie quiekten laut und fröhlich. Ihre knappen Schottenröcke hatten etwas Kameradschaftliches, nichts Herausforderndes. Vera schaute wieder die Sandalen an, dann auf das Schaufenster des Schuhladens. Zwischen lauter Billigkoffern bewegte sich etwas in der Tiefe des Ladens. Ein Araber mit einem Fahrradhelm auf dem Kopf schaltete eine Neonröhre an und begann aufgerissene Kartons zusammenzutreten
    Ich nehme die Sandalen, sagte sie auf Deutsch. Es sind scheußliche Schuhe, aber Meret würden sie gefallen.
    Sie bezahlte und lief die Petticoat Lane entlang zurück zur Whitechapel Road. Auf der Oystercard war kein Guthaben für den Bus mehr. Sie ging zu Fuß. Die Sandalen in Zeitungspapier unter dem Arm merkte sie, sie folgte einer Frau mit Kapotthut, die einen schwarzen Jungen mit sich zerrte. Als die Frau sich einmal kurz umdrehte, sah Vera ein wachsbleiches Gesicht mit einer gewissen verwaschenen Hübschheit darin. Vera hatte sich seit Silvester angewöhnt, Fremden zu folgen. Vorbei an einer steifen, weißen Kirche, vorbei an drei Kneipen, einem Express-Supermarkt, vor dem auf dem Boden ein Mann auf einem Stück Pappe saß und sich an dem Hund in seinem Schoß wärmte, ließ sie sich von Frau und Kind in eine abgelegene Straße führen, deren Mitte bis zur Kanalisation aufgerissen war. Im letzten Aufgang eines vierstöckigen Häuserblocks, auf dessen Balkonen Wäsche doppelt und dreifach übereinanderhing und trotzdem fror, verschwanden Frau und Junge hinter einer roten Tür. Die Tür gestern, hinter der das indisch aussehende Mädchen verschwunden war, das Vera durch ein kaltes, regnerisches Southhall verfolgt hatte, war gelb gewesen. Vera drückte vorsichtig gegen die rote Tür wie gestern gegen die gelbe. Nicht um sie zu öffnen. Nur um Abschied zu nehmen. Schließlich war man ein Stück Weg lang zusammen gewesen, selbst wenn man nichts voneinander wusste. Zur gleichen Stunde und am gleichen Ort zusammen zu sein hatte immer etwas Tröstliches. So war sie weniger allein in der großen Stadt, auf der überfüllten Welt.
    2.
    Wie hoch sie die Nase trug, war ihrem schmalen Rücken, ihren schmalen Schultern anzusehen. Seit dem U-Bahn-Ausgang Sloane Square war Vera dieser Frau durch den Kreisverkehr vor dem Royal Theatre gefolgt, durch den sie wie eine Königin schritt, als seien Autos allein dazu da, für Frauen wie sie anzuhalten. Mit steifen Knien ging sie durch den Nebeneingang des Peter Jones, vorbei an einem Blumenladen mit Marmorwänden, dann durch eine Schwingtür, wo dunkelhäutige Verkäuferinnen vor einer Riesenauswahl weißer Plumeaus wie heiße Schokolade auf Vanilleeis warteten. Die Frau nahm die Rolltreppe. Vera folgte. Es waren nicht nur das Winterkostüm aus Kamelwolle und die schmalen, eng anliegenden Stiefel mit den goldenen Absätzen dazu, die sie Martha Wünsche so ähnlich machten. Einmal drehte sie sich um. Ja, das Leben hatte diese Frau Jahr und Jahr nicht erschöpft, sondern nur geduldig ausgetrocknet.
    Woher kamen plötzlich all diese Gedanken, und brauchte Vera sie jetzt?
    Sechster Stock, Warenhaus Peter Jones, Sloane Square. Vera setzte sich ans Panoramafenster. In den Horizont von Chelsea hinein ragten die Hyde Park Barracks und das London Oratory. Am Nachbartisch legte die Frau ihre Unterarmtasche aus Kroko- oder Schlangenleder neben den Teller mit Zitronenkuchen.
    Das erste Stück ließ sie zurückgehen. Die Spitze war abgebrochen. Das zweite aß sie zur Hälfte, mit angespannten Mundwinkeln. Aber was konnte bei einer Frau wie ihr ein Zitronenkuchen gegen die mangelnde Süße des Lebens ausrichten? Als hätte sie Veras Gedanken gehört, lächelte die Frau zu ihr herüber, aber nur, um ihre kräftigen Schneidezähne zu zeigen. Dann stand sie auf und ging.

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