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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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Vera auch. Im Vorbeigehen nahm sie den Rest Kuchen vom Teller. Sie hatte Hunger und kaum noch Geld.
    Über die Kings Road hinweg gingen sie hintereinander her, bis in die ruhigeren Seitenstraßen von Chelsea hinein. Dünn wie eine Briefmarke trippelte die Frau vor ihr her und hatte bald einen Hausschlüssel in der Hand, mit dem sie vor einem Apartmenthaus aus den Sechzigerjahren stehen blieb. Kristalllüster brannten hinter blitzenden Fenstern das Licht eines späten Januarnachmittags herunter. HAUS WINFRIED stand über der gläsernen Eingangstür, hinter der ein livrierter Portier saß. Menschenleer war die Straße jetzt, bis auf ein Taxi, das langsam vorüberfuhr. Als das Taxi verschwunden war, ging Vera schneller und streckte die Hand aus. Mit einem sanften, aber entschlossenen Sorry riss sie die Unterarmtasche aus Kroko oder Schlange aus einer kaum noch vorhandenen Köperkurve, aus jener vergessenen Gegend zwischen Rippen und Hüfte, die früher einmal eine Taille gewesen war, und in die sich sicher seit Langem keine fremde Hand mehr verirrt hatte.
    Was will Ihre Tochter eigentlich auf dem Gymnasium, hatte Mutter Martha vor langer Zeit die Mutter von Vera gefragt. Schon ziemlich alt und fischbeinblass unter ihrer dicken Schicht Puder hatte Mutter Martha an der Kasse von Haus Wünsche gesessen und den Satz wiederholt. Was will Ihre Vera eigentlich auf dem Gymnasium? Sie spielte dabei an einer Elfenbeinkette herum, als hätte ihre Familie einmal Sklaven und halb Afrika dazu besessen. Ein kalter Ofen konnte nicht kälter sein. Was meine Tochter auf dem Gymnasium will? Veras Mutter fiel ein Dutzend Knöpfe für Bettwäsche aus der Hand. Sie war dreißig, wurde dunkelrot, dann ebenfalls bleich. Wütend weiß, hatte Vera gedacht, die neben ihr stand mit einem Gefühl, auf der Stelle zerbröseln zu müssen, während ihre Mutter ihr Gesicht ganz nah an das Gesicht von Merets Mutter heranschob. Sie will dort jeden Tag eine gute Tat tun, hatte sie gesagt, sie wird neben Ihrer Meret sitzen, um sie abschreiben zu lassen. Mit den Augen einer toten Goldbrasse hatte Mutter Martha auf die neue Eingangstür von Haus Wünsche gezeigt, auf die zwei Scheiben bruchsicheres Glas, die vor Kurzem die alte Drehtür ersetzt hatten. Wie auf Befehl öffneten sie sich automatisch und schmatzten dabei zufrieden. Raus, sagte Mutter Martha. Vera hatte den Kopf in den Nacken gelegt, als sei all dies schon vorbei. Ein Vogel war über das Glasdach von Haus Wünsche getrippelt. Ein Vogel. Ein Verbündeter.
    Als Vera sich an der nächsten Ecke, wo bereits der Verkehr der Kings Road rauschte, noch einmal umdrehte, stand die Frau vor dem Apartmenthaus Winfried, ihr Körper schien sich völlig versteift zu haben. Sie stieß ein scharfkantiges Lachen aus und bewegte danach nur noch die Lippen, als singe oder bete sie leise.
    Wieder der Blumenladen, die Bettenabteilung, die Rolltreppe vom Peter Jones. Zwischen zwei Etagen hörte Vera das laute Ratschen eines Klebebands aus der Gardinenabteilung und sah hinunter. Eine kleine, nicht mehr junge Person, die im Lauf eines hingebungsvollen Arbeitsleben vergessen zu haben schien, dass sie eine Frau war, packte gerade ein Paket, das grün und zu groß für sie war. Sie drückte es wenige Sekunden später mit den Unterarmen gegen die Brust und lief zwischen den Reihen mit Stoffballen davon. Von hinten besehen eine große Glockenblume, aber eine schwarze, die mit schöner Regelmäßigkeit die Gänge des Warenhauses Peter Jones entlangläutete Richtung Feierabend.
    Vera setzte sich an den gleichen Tisch, an dem sie vor keiner Viertelstunde schon einmal gesessen hatte und öffnete die Unterarmtasche. Ein unbenutztes Spitzentaschentuch, ein Fläschchen Eau de Toilette, eine angebrochene Packung Mentholzigaretten, ein einzelner Sicherheitsschlüssel, die Visitenkarte eines Taxiunternehmens, Briefpapier Luftpost, dünn und blau und unbenutzt, sowie die Todesanzeige eines Monsieur Philip de Sec, ehemaliger Präsident der Bank von Lüttich, der fünf Kinder, dreiundzwanzig Enkel und sieben Urenkel in Belgien und einen in einem arabischen Land hinterließ. Zuletzt schaute sie in ein Portemonnaie aus sehr weichem, saffianrotem Leder und war um 375   Pfund und einige Münzen reicher. Sie schaute aus dem Panoramafenster des Peter Jones. Die Hyde Parc Barracks, das London Oratory, darunter die vielen zugemauerten Schornsteine der Dächer von Chelsea. Vera stand auf und ging zum Kuchentresen. Ein junger Mann mit einer weißen

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