Wünsche
Vor dem Studio standen zwei wacklige Stühle und ein Plastiktisch. Zu dritt taten die ausrangierten Möbel am Rand eines rissigen Schlammkarrees tapfer so, als seien sie ein Garten. Wo der Durchgang auf die nächste Straße mündete, lungerten Jungen im finsteren Alter zwischen Kind und Mann herum und ließen eine 7-Up-Dose kreisen.
Sie war dem Mann in dem hellen Trenchcoat eine knappe Stunde lang von der Station Embankment bis zum Haus mit dem Schlitten gefolgt, obwohl er ein ganz anderer war als der Mann vor dreißig Jahren. Gott war nicht dankbar. Niemanden verschonte er vor dem Alter, nur weil er zwei kleinen Mädchen geholfen hatte, unbeschadet ans Ende einer Nacht zu kommen. Jetzt, wo der Mann, dem sie gefolgt war, in der Tür seines Hauses verschwunden war, stellte sie außerdem fest, dass es nicht viele Menschen in ihrem Leben gegeben hatte, die davon profitierten, sie zu kennen. Warum also die Liste verlängern? Im Garten vor dem Nachbarhaus reinigte ein kleiner, dicklicher Pakistani seinen Goldfischteich. Das Schutzgitter hatte er dafür beiseite gelegt. Hatte er Angst, Fische ohne Gefängnis würden davon laufen? Vera grüßte aus Verlegenheit. Er schaute wie ein Nachtwandler zurück.
Der ist nicht unhöflich, der ist einfach so, sagte eine Stimme aus dem ersten Stock über dem Schlitten, warum kommen Sie nicht herein?
Wenige Herzschläge später öffnete sich die Haustür wieder.
6.
Das haben wir noch nicht gesehen, hatte Vera damals zu Meret gesagt. Streich einfach durch, Schlaumeise, hatte Meret geantwortet, das merken die zu Hause sowieso nicht. Blaue und grüne Lichtchen tanzten in ihren Augen, deren Lider sie am Morgen auf dem Klo der Gastfamilie in Barnet großzügig angemalt hatte, so dass sie wie ein Pandabär aussah. Sie hatte vor Veras Gesicht herumgefuchtelt, als wolle sie das helle Nachmittagslicht wegwischen. Ein Mann stand vor ihnen auf dem Rasen des Hyde Parks, den ein heißer Sommer bereits braun gefärbt hatte. Der Mann hatte schwarze Locken. Jannis, sagte er, und wie alt seid ihr eigentlich?
Vierzehn, sagte Vera.
Und du?, fragte Meret.
Dreißig.
Sind wir beide zusammengerechnet fast auch, krähte Meret, bevor sie in den alten Vauxhall stiegen. Sie drehte sich zu Vera um: Du sitzt hinten! Vor einer Bar ließ er sie aussteigen. Geht schon mal hoch, sagt einen Gruß von Jannis. Ich komme gleich nach.
Die steile Stiege führte von der Straße fast senkrecht zu einer niedrigen roten Tür. Am Tresen saßen Ali Baba und fünf Räuber. Den zwei Gläsern Cola, die Meret und sie nicht bestellt hatten, folgten zwei weitere, und noch zwei, bis Vera zum Klo musste. Sie stand auf und konnte nicht mehr gehen. Was sie ansah, gab dem Blick nach wie Gummi.
Bathroom?
Einer der Räuber hatte auf ein Loch in der Wand gezeigt, wo eine geraffte Gardine wie ein schweres Lid über einem ausgestochenen Auge hing. Am Ende des Gangs kam Vera ein struppiges Mädchens entgegen und blieb in einem großen goldenen Rahmen vor ihr stehen. Das Gesicht waberte vor, wehte wieder zurück und hatte trotz dieser verdammten Ähnlichkeit mit Gelatine noch mehr Ähnlichkeit mit ihr selber. Mädchenhändler, flüsterte das Gelatinegesicht. Zurück am Tresen bohrte Vera die Nase in Merets Haar. Wir gehen! Merets Ohr hatte sich wie Wachs angefühlt. Die Stiege von der roten Tür zur Straße hinunter krochen sie rückwärts. Und wieder stand unten ein Mann, wieder einer, den sie noch nicht kannten. Er trug einen hellen Trenchcoat.
Do you need a cab?
Wat? Meret hatte sich als Erste aufgerichtet und krempelte ihren kurzen Rock kürzer. What, übersetzte Vera, da hatte Meret sich bereits bei dem Trenchcoat eingehakt und wiederholte das Wort Cigarette, um für den Rest des Abends ihre kindische Begleitung anzubieten. Der Mann im hellen Trenchcoat machte sich los und strich Meret über die Wange: Wo wohnt ihr? Barnet, sagte Vera. Der Mann hatte ein Taxi angehalten und zwei Geldscheine auf den Platz neben dem Taxifahrer geworfen, damit er sie zurück nach Barnet fuhr, in jenen nördlichen Vorort von London, in dem alle Häuser gleich, aber alle auch gleich behaglich aussahen und wo Meret besoffen, aber gerettet ins Klappbett und Vera auf das Sofa der Gastfamilie fiel, das zu kurz war und dessen Bezug kratzte, wenn sich beim Träumen das Laken verschob. Die ganze Strecke über hatten Meret und sie damals im Taxi geschwiegen, doch so, als wollten sie etwas sagen, das sie nicht sagen konnten, weil sie damals nicht einmal
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