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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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Krankenhausabendbrot. Der kurze Mantel über dem Trainingsanzug war ein Herbstmodell, mit dem H&M flächendeckend Werbung gemacht hatte. Auch am Bahnhof. Deswegen kam sie Kneidl wohl bekannt vor, als sie nun in so einem Mäntelchen vor seiner Imbissbude stand und nichts bestellte, sondern bleich lächelte, während ihr Herz raste. Von der ersten Sekunde an hatte sie ihn und sich vereint unter einem jungen Baum gesehen, der aber nicht im düsteren Park hinter Haus Wünsche herumstand. Ihr Baum wuchs in einem eigenen kleinen Garten. Sie und er lagen darunter. Ihre Köpfe berührten sich, während sie gemeinsam die helleren Unterseiten der Blätter betrachteten. Hoch darüber schwebte eine Wolke, die kurz sogar die Form eines gewickelten Babys annahm, obwohl Meret gerade erst eine komplizierte Abtreibung hinter sich hatte. Kneidl, hatte sie auf den ersten Blick gewusst, war der Mann des neuen Jahrtausends für sie. Am Wochenende zuvor war er sogar in der Zeitung gewesen. Mit Foto im Lokalteil, in der Rubrik VERMISCHTES . Er hatte in der Nacht von Samstag auf Sonntag während der Tagesthemen auf den amtierenden Bundeskanzler geschossen, weil ihm dessen Arbeitspolitik nicht gefiel. Danach war der Fernseher kaputt gewesen. Kneidls Haar lichtete sich bereits an den Schläfen. Den Rest hatte er mit Gummi zu einem Zöpfchen gebunden, zu so einem dürftigen Rattenschwänzchen, und sie fand das schön. Er schob eine doppelte Portion Pommes für sie über den Tresen. Sich selber goss er einen Laphroaig ein. Nachdem er ihr zu lange in die Augen gesehen hatte, hatte er auch ihr einen eingegossen. Sie stießen an. Katzen würden Whisky saufen, sagte er, trink, Mädchen!
    Gesagt hatte der Kneidl nie viel. Doch wenn er mal geredet hatte, waren die Worte immer seine eigenen gewesen und in ihrem Inneren gelandet, dort, wo es bei ihr am lautesten war. Ja, Kneidl war wie die meisten Menschen, er meinte es gut. Er versuchte es wenigstens. Eine Hand, eher eine Pranke, mit der man Motorräder reparieren und Eisenzäune zu einem Blumenmuster biegen konnte, streckte er über den Tresen zu ihr herüber und zog sie so nah zu sich heran, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste. Das Schälchen mit den bunten Plastikpickern für die Pommes fiel dabei um.
    Küssen, hatte er vorsichtig gefragt, und viel hatte nicht gefehlt und sie hätten getan, was man an so einem Ort gar nicht tun konnte. Sie hätten das getan, wovon sogar Meret keine Ahnung hatte, wie man es auf der Straße tut, aber sie hätten es getan, fast, und ganz bestimmt wären die Passanten um sie herum gestorben vor Empörung. Einige auch vor Erregung.
    Glückliche Zeiten folgten, dort in der Brutzelbude am Bahnhof Kiel. Mit den Wochen vergingen die Monate, die Jahre, aber die Liebe nicht. Tagsüber hatte sie fröhlich bleiches Fleisch in die Fritteuse geworfen. Nachts war Kneidl bei ihr, und solange er mit ihr schlief, verging Merets Angstwut, die sie schon ein Leben lang plagte, wie eine Faust, wenn die Hand sich öffnet. Alles war gut gewesen, bis eines Tages im letzten September Vera vorbeigekommen war, die Augen zusammenkniff und Meret mit der ausgeblichenen Menüleiste über den Fritteusen wie Gleiches mit Gleichem verglich. Am liebsten hätte sie Vera mit den bunten Plastikpickern die Augen ausgestochen. Wegen dieses Blicks, wegen dieses Angriffs der Vergangenheit auf die Gegenwart hatte Meret sich zwischen Würstchen und Koteletts plötzlich selber wie ein Stück Fleisch gefühlt, dessen Verfallsdatum längst abgelaufen war. Ein Stück Wellfleisch, ein Dreck. Nach einer Ewigkeit, in der Meret sich sogar hinter dem Namen Helga zu verstecken versucht hatte, war endlich dieser Junge gekommen, der Vera so verdammt ähnlich sah, dass sie ihn am liebsten angefasst hätte, wie man einen jungen Hasen anfasst. Die beiden waren gegangen und hatten in einiger Entfernung wie Verschwörer miteinander gesprochen. Über den Akkordeonspieler vielleicht, der auf dem Bahnhofsvorplatz gesessen hatte? Über die Frau in der Imbissbude? Über deren giftiges Gesicht und Welksein? Vera hatte an dem Tag im letzten September die Scham und die Unzufriedenheit in Merets Leben zurückgebracht, und am Abend hatte es deswegen den großen Streit mit Kneidl gegeben. Vergessen waren plötzlich all die Sonntagmorgen im Bett, wenn sie sich eine Zigarette angezündet und auf seine Nase geascht hatte, um ihn zu wecken. Beim Kochen hatte Meret angeekelt auf das klebrige Hirschgeweih über dem Herd mit den

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