Würde - Roman
lautstark rassistische Ansichten verbreitet hatte. Es war pure Ironie, dass er wütend auf diesen Mann gewesen war, weil dieser versucht hatte, Amanda zu betören, um dadurch seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen.
Doch was sollte er Abayomi sagen, wenn er jetzt gehen würde? Wie konnte er ihr erklären, dass er nicht hatte helfen können? Er fühlte sich in einem Zwiespalt: Wenn dieser Ifasen, der Ehemann
seiner Geliebten, noch länger im Gefängnis bleiben müsste, bedeutete das auch, dass er, Richard, ungestört Zeit mit ihr verbringen konnte. Mit einem inhaftierten Ifasen gab es die Aussicht auf weitere unbehelligte Tage mit Abayomi. Und vielleicht sogar auf unbehelligte Nächte.
Der Gedanke erfüllte ihn mit selbstsüchtigem Verlangen. Gleichzeitig lief es ihm kalt den Rücken hinunter, wenn er daran dachte, wie zerbrechlich seine Redlichkeit offenbar war. Er betrachtete Ifasens geschundenes Gesicht, das trotz der Misshandlungen würdevoll wirkte. Ihn jetzt allein zu lassen, wäre niederträchtig gewesen.
»Ich kann Ihnen helfen«, erklärte er. »Und ich werde Ihnen helfen. Der Mann, der Sie in diese Lage gebracht hat … Er verkörpert all das, was ich verachte. Ich werde nicht zulassen, dass er Ihnen so etwas antut.«
Ifasens Miene wirkte noch immer misstrauisch. Er war nicht überzeugt und schüttelte den Kopf. »Warum teilen Sie Ihr Essen mit einem Mann, den Sie verachten? Warum laden Sie solche Menschen zu sich nach Hause ein? In meinem Land essen wir mit Freunden oder manchmal auch mit jemandem, von dem wir etwas wollen. Wollten Sie etwas von diesem Mann?«
»Nein … Nein, in meinem Land essen wir oft mit völlig Fremden. Wir servieren sogar Leuten Essen, die wir nicht einmal mögen. Leute, die versuchen, uns die Frauen wegzunehmen, während wir ihnen Wein einschenken.« Richard sprach mehr mit sich selbst als mit Ifasen. Er lachte auf, als wollte er damit seinen Standpunkt noch unterstreichen.
Ifasen antwortete nicht sofort. »Ich fürchte, Sie sind wie alle anderen«, meinte er nach einer Weile. »Sie schauen mich an und sehen nur den Schuldigen. Sie sind wie der Mann in dem Auto, wie die Polizisten, wie der Richter. Sie sind nicht in der Lage, den Menschen hinter dem Stempel wahrzunehmen, den man
mir aufgedrückt hat. Ich habe nie darum gebeten. Ich wollte diesen Stempel nicht. Sie haben mich damit versehen. Es bringt Ihnen nichts, ihn wieder entfernen zu wollen. Wieso sollten Sie das also tun? Selbst wenn sich herausstellt, dass ich unschuldig bin, bleibe ich in Ihren Augen doch immer der Angeklagte, der Beschuldigte.«
Richard war überrascht, wie klar Ifasen seine Meinung äußerte. Ifasen hatte recht, das wusste Richard. Anfangs war jeder Mandant für ihn noch ein Individuum gewesen. Er hatte sich stets um den erfolgreichen Ausgang einer Verhandlung bemüht, sich für das Wohlbefinden seiner Klienten verantwortlich gefühlt. Doch die Last dieser Verantwortung war mit der Zeit immer schwerer geworden, und der Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg hatte sich als zu verheerend herausgestellt. Oder vielleicht hatte es auch angefangen, ihn zu langweilen: immer die gleichen Geschichten, die gleichen aalglatten Entschuldigungen seiner Klienten. Selten übernahmen sie selbst Verantwortung für ihr Verhalten. Sie wollten keine Absolution von ihm. Seine Aufgabe bestand lediglich darin, die drohende Strafe aus dem Weg zu räumen, damit sie so weitermachen konnten wie bisher.
Aber Ifasens Anschuldigungen gingen noch weiter. Er warf Richard und seinesgleichen Rassismus und Fremdenhass vor. Und auch in dieser Hinsicht wusste Richard, dass es nichts zu diskutieren gab.
Er betrachtete das kluge Gesicht seines Gegenübers, die feinen Gesichtszüge. Die Erschöpfung ließ Ifasens Augenlider ein wenig nach unten hängen, was den Eindruck vermittelte, als wäre ihm im Grunde alles egal. An seinem Mund und an den Seiten seiner Nase waren deutliche Prellungen zu erkennen.
»Erzählen Sie mir etwas von sich, Ifasen«, forderte er ihn auf. »Wann sind Sie … und … und Abayomi hierhergekommen?«
Er redete stockend, und seine Stimme zitterte leicht, als er ihren Namen aussprach.
Doch Ifasen schien das nicht zu bemerken. »Ich glaube, Sie wollen in Wirklichkeit wissen, warum wir hierhergekommen sind und nicht wann «, erwiderte er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich werde Ihnen auf beides eine Antwort geben. Unser Volk hat 1960 seine so genannte Unabhängigkeit bekommen. Aber in Wahrheit
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