Würde - Roman
Ausdruck zu bringen, die es versäumt hatten, irgendein noch so kleines muslimisches Ritual zu beachten. Ihre Besessenheit mit der formalistischen Befolgung religiöser Vorgaben ließ sie engstirnig wirken und brachte ihre mangelnde Intelligenz noch deutlicher zum Ausdruck. Manchmal erschrak Ifasen, wenn er bemerkte, welche Verachtung er für seine Mutter empfand. Doch er vermochte die Enttäuschung nicht abzuschütteln, die er von früher Kindheit an gehegt hatte, wenn ihm wieder einmal bewusst wurde, dass diese hagere Frau mit der schrillen Stimme seine Blutsverwandte war. Ihre abschätzige Art reizte ihn und ließ ihn jedes Mal zusammenzucken, wenn sie wieder ausführlich die Unzulänglichkeiten eines Nachbarn hinsichtlich der Scharialehre erörterte.
Obwohl Ifasen einen anderen Weg gegangen war, als man von ihm erwartet hatte, und trotzig eine Frau heiratete, die von einem anderen Volk und von einem anderen Glauben abstammte, fühlte er sich manchmal noch immer von seiner Familie gefesselt. Er hatte die edlen, regelmäßigen Gesichtszüge seines Vaters und dessen hohe Stirn geerbt. Er besaß auch dieselbe Reserviertheit - eine tief sitzende Ernsthaftigkeit, die ihn abweisend und manchmal sogar hochmütig wirken ließ. In Wahrheit jedoch war er ausgesprochen unsicher. Sobald er sich herausgefordert fühlte, legte er seinen Schutzpanzer an und wirkte herablassend und selbstgerecht.
Na’imah hatte einmal einen Freund Abayomis als »dreckigen Köter« bezeichnet, was in ihrer beschränkten Welt eine echte Beleidigung darstellte. In jenen Momenten, in denen sich Ifasen mit erstarrter Miene in sich selbst zurückzog, machte Abayomi seitdem seine Mutter nach und entwaffnete ihn jedes Mal, indem sie ihm immer wieder »Du dreckiger Köter« zuzischte und ihn dabei wie ein Wolf umkreiste, bis er schließlich aufbrüllte und sie zu fangen versuchte. Es war eine Taktik, die sie inzwischen immer weniger anwandte, so dass er mit seinen inneren Kämpfen allein blieb.
Abayomis Familie war nicht weniger stolz als die seine und das vielleicht aus besserem Grund. Ihre Großmutter mütterlicherseits war eine Yoruba gewesen, ihr Großvater hingegen ein Igbo. Abayomi hatte die statuenhafte Schönheit ihrer Großmutter geerbt; sie bewegte sich selbstbewusst und würdevoll. Die Eltern ihres Vaters entstammten einer langen Linie aus Igbo-Intellektuellen und Künstlern.
Obwohl man ihre Eltern nicht als Hurra-Patrioten bezeichnen konnte, waren sie doch von dem stärker werdenden Igbo-Nationalismus durchdrungen gewesen, der die mutige Unabhängigkeitserklärung der Republik Biafra von Nigeria im Jahr
1967 ausgelöst hatte. Vor Abayomis Geburt hatte ihr Vater Jideofor an der Universität Wirtschaftswissenschaften unterrichtet. Er hatte einem intellektuellen Kreis angehört, dessen Mitglieder nun großenteils wichtige Positionen in der neuen Biafra-Regierung einnahmen. Jideofor war ebenfalls angesprochen und ins neue Finanzministerium berufen worden, wo er an der Ausarbeitung einer strategischen Planung für die junge Nation beteiligt war. Die biafranische Flagge wehte drei stolze Jahre. Doch die Euphorie hielt nicht lange an: Der nigerianische Staat, der zuerst heimlich und dann recht offenkundig vom Westen unterstützt wurde, mobilisierte seine Truppen und erklärte Biafra den Krieg.
Im Jahr 1970 fand der biafranische Traum ein blutiges Ende. Mehr als eine Million Menschen wurde dabei getötet. Großbritannien ignorierte die Gräueltaten, während die restliche Welt so tat, als hätte es Biafra nie gegeben. Für Abayomis Vater bedeutete der Krieg furchtbare Verluste. Er verlor seine Freunde, seine Stellung und seinen Optimismus für sein Land und dessen Bewohner. Er sprach nie über die Republik, über die Hoffnungen, die sie gehegt hatten, oder was ihnen entrissen worden war. Nach dem Zusammenbruch Biafras war er einer zunehmenden Verfolgung durch den militaristischen Staat ausgesetzt und zog sich mehr und mehr in sich zurück. Für die Überlebenden um ihn herum schien er immer stärker in einem Morast aus Depressionen zu versinken, aus dem er nicht mehr herauskam. Doch die Geburt von Abayomis älterem Bruder Abazu und dann die Abayomis rissen ihn aus seiner tiefen Traurigkeit. Er liebte es, seinen Kindern ein guter Vater zu sein, und richtete all seine enttäuschten Hoffnungen auf die beiden.
Jideofor gab seiner Tochter den Igbo-Namen Okeke, doch ihr bevorzugter Name Abayomi war yorubaischen Ursprungs und von ihrer Großmutter
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