Wüstenfeuer
Imperial War Museum hinauf. Die angesehene nationale Institution im Londoner Verwaltungsbezirk Southwark residierte in einem Klinkerbau aus dem neunzehnten Jahrhundert, der ursprünglich als Sanatorium für Geisteskranke konzipiert worden war. Neben seiner umfangreichen Sammlung von Fotografien, Kunstwerken und militärischen Utensilien aus dem Zweiten Weltkrieg verfügte das Museum auch über ein großes Archiv von Kriegsdokumenten und privaten Briefen.
Julie meldete sich am Empfangstisch in der Vorhalle, von wo sie in einem telefonzellengroßen Fahrstuhl zwei Stockwerke höher gebracht wurde. Danach musste sie zu Fuß noch eine Treppe hinaufsteigen, ehe sie ihr Ziel erreichte. Der Lesesaal des Museums war eine eindrucksvolle runde Bibliothek unter der hohen Zentralkuppel des Gebäudes.
Eine gelehrt wirkende Frau in braunem Kostüm lächelte, als sie die Besucherin erkannte, die sich dem Auskunftspult näherte.
»Guten Morgen, Miss Goodyear. Gilt Ihr Besuch wieder Lord Kitchener?«, fragte sie.
»Hallo, Beatrice. Ja, ich fürchte, die vielfältigen Geheimnisse des Feldmarschalls führen mich schon wieder hierher zurück. Ich habe vor ein paar Tagen angerufen und um einige ganz besondere Unterlagen gebeten.«
»Mal sehen, ob sie schon herausgesucht wurden«, erwiderte Beatrice und trat zum Schalter des Privaten Archivs, wo solche Bestellungen hinterlegt wurden. Eine Minute später kam sie mit einem dicken Stapel Dokumentenmappen unter dem Arm zurück.
»Ich habe eine Weißbuch-Untersuchung der Admiralität über den Untergang der HMS
Hampshire
und die offizielle Kriegskorrespondenz Lord Kitcheners aus dem Jahr 1916«, sagte die Bibliothekarin, während sie von Julie die Ausgabequittung unterschreiben ließ. »Offenbar ist alles, worum Sie gebeten haben, komplett vorhanden.«
»Danke, Beatrice. Es wird nicht lange dauern.«
Julie trug die Dokumente zu einem Tisch in einer Ecke und begann mit der Lektüre des Admiralitätsberichts über die
Hampshire
. Die darin enthaltenen Informationen waren allerdings eher dürftig. Sie hatte frühere Anschuldigungen gegen die Royal Navy von Seiten der Bewohner der Orkneys gesehen, die behaupteten, die Navy habe damit gezögert, Hilfe für das getroffene Schiff auszusenden, nachdem sein Verlust gemeldet worden war.
Der offizielle Bericht vertuschte ganz eindeutig jegliches Fehlverhalten der Navy und wischte alle Gerüchte beiseite, das Schiff könnte durch etwas anderes gesunken sein als eine Treibmine.
Kitcheners Korrespondenz erwies sich als nur unwesentlich aufschlussreicher. Sie hatte seine Briefe schon vorher gelesen und sie als ziemlich nichtssagend empfunden. Kitchener hatte im Jahr 1916 den Posten des Kriegsministers innegehabt, und seine offiziellen Schreiben betrafen vorwiegend die Personal- und Rekrutierungsprobleme der englischen Armee. In einem Brief beklagte er sich zum Beispiel beim Premierminister darüber, dass Männer aus der Armee abgezogen wurden, um als Arbeiter in Munitionsfabriken an der Heimatfront eingesetzt zu werden.
Julie überflog die Seiten bis kurz vor dem fünften Juni, dem Tag seines Todes auf der
Hampshire
. Die Entdeckung, dass die
Hampshire
durch eine interne Explosion versenkt worden war, brachte sie dazu, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass jemand tatsächlich seinen Tod gewünscht haben konnte. Diese Überlegung führte sie zu einem ungewöhnlichen Brief, den sie schon Monate zuvor gesehen hatte. Indem sie die Aktenmappe durchsuchte, fand sie schließlich den Brief und starrte ihn verblüfft an.
Im Gegensatz zu der vergilbten militärischen Korrespondenz war dieser Brief immer noch schneeweiß und auf schwerem Büttenpapier geschrieben. Oben auf der Seite war der Schriftzug
Lambeth Palace
eingeprägt.
Aufmerksam las Julie den Brief.
Sir,
im Namen Gottes und der Nation beschwöre ich Sie zum letzten Mal, das Dokument herauszugeben. Die Unantastbarkeit unserer Kirche hängt davon ab. Denn während Sie einen vorübergehenden Krieg gegen die Feinde Englands führen, befinden wir uns in einem ewigen Kreuzzug zur Rettung der Menschheit. Unsere Gegner sind niederträchtig und raffiniert. Sollten sie in den Besitz des Manifestes gelangen, könnte dies den Untergang unseres Glaubens bedeuten. Ich empfehle Ihnen mit Nachdruck, der Bitte der Kirche nachzugeben. In Erwartung Ihrer baldigen Antwort,
Randall Davidson
Julie erkannte in dem Autor den Erzbischof von Canterbury. Am Rand entdeckte sie eine handschriftliche Notiz, die
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