Wuestenmond
krank…«
Sie schüttelte den Kopf. Sie sprach angestrengter, langsam und fast mühevoll.
»Wäre er in Algerien geblieben, hätte er länger leben können. Sein Vater Hiram hatte auch Asthma, das lag in der Familie. Und Hiram wurde fast neunzig. Aber Chenani ging mit mir nach Brüssel. Das feuchte Klima verschlimmerte seinen Zustand. Und als er anfing, mit Jean Chevallier zu reisen, unterschrieb er sein Todesurteil.«
Ich nippte stumm an meinem Kaffee. Was sie sagte, entsprach den Tatsachen. Seit seiner Kindheit hatte mein Vater an Asthma gelitten.
Die trockene Saharaluft ließ ihn die Krankheit kaum spüren. Seine Beschwerden waren so gering, daß niemand sie beachtete, am wenigsten er selbst. Als meine Eltern die Sahara verlassen mußten, war es klar, daß sie nach Belgien ziehen würden. Olivia fand ziemlich schnell eine Arbeit, während Chenani einen technischen Fortbildungskurs besuchte und dann einen schlecht bezahlten Job in einem Fotolabor annahm. Daß die chemischen Dämpfe Gift für seine Lungen waren, ahnte keiner. Durch Zufall begegnete er Professor Chevallier vom Völkerkundemuseum in Brüssel, einem Spezialisten für das Kunsthandwerk in der südlichen Sahara. Er hatte Aufnahmen aus der Wüste in das Labor gebracht. Chenani entwickelte die Fotos; als der Professor sie abholte, erläuterte er ihm jedes Bild auf seine ungemein fesselnde Art.
»Vergiß nicht«, sagte Olivia, »daß Chenani damals knapp über zwanzig war. Ich war elf Jahre älter als er.
Chenani hatte die Nomadenschule besucht, konnte lesen und schreiben und wußte, wer die Beatles waren. Darüber hinaus war ihm nichts wirklich fremd, er fand sich überall zurecht, und kaum etwas setzte ihn in Erstaunen. Auch Mechanik und Technik waren ihm vertraut. Kein Wunder: Früher oder später lernt jeder Targui, wie ein Motor funktioniert. Die Fähigkeit, ein kaputtes Auto reparieren zu können, entscheidet unter Umständen darüber, ob man am Leben bleibt oder nicht.«
»Machte dir der Altersunterschied nichts aus?«
33
»Nicht im geringsten. Chenani besaß einen klaren, hellen Verstand.
Er war sehr empfindsam, rasch im Handeln, aber nie unüberlegt.
Seine Selbständigkeit hatte sich früh gefestigt. Durch mich – und später auch durch Chevallier – lernte er eine neue Welt und ihre Lebensweise kennen.«
»War das nicht schwierig für ihn?«
»Nein. Er wurde nie in zwei Teile gerissen, dazu war er viel zu ausgeglichen und unabhängig.«
Olivia begriff erst später, daß Chenani seine Klugheit und Gelassenheit der Wüste verdankte. Denn das Leben der Nomaden, in unserer Vorstellung frei von Fesseln, besteht in Wirklichkeit aus einer Unzahl winziger, genau zu betrachtender Einzelheiten. Und weil Chenanis Dasein von Anbeginn an entbehrungsreich war, konnte er sanft und heiter sein, frei von Komplexen, Verwirrungen oder innerem Zwiespalt.
Der Name Jean Chevallier war mir bekannt. Ich erinnerte mich verschwommen an ihn. Olivia erzählte mir, daß er kürzlich gestorben sei.
»Die Arbeit im Museum war sein ganzes Leben; bald nach der Pensionierung ging es mit seiner Gesundheit bergab. In seinen guten Stunden rief er mich manchmal an. Er sprach von Chenani, als ob er noch lebte. Anfangs fand ich das sonderbar.«
»Was hat du ihm gesagt?«
»Nichts. Ich ließ es dabei bewenden. Ich wußte ja, daß er verwirrt war. Um die Wahrheit zu sagen, ich denke, er hatte Gewissensbisse.
Dabei hatte er es mit Chenani ja gut gemeint. Letzten Februar kam die Todesanzeige. Beerdigungen kann ich nicht ausstehen. Ich schickte eine Spende. Das war’s dann.«
Sicher hat er es gut gemeint, dachte ich. Aber er hatte auch von Chenani profitiert. Ich sagte:
»Er mochte Chenani vielleicht nur, weil er ein Targui war, er dachte daran, daß er von ihm viel lernen konnte; ein Forscher kann diesen Aspekt vielleicht nie ganz vergessen.«
Sie nickte.
»Gewiß war seine Sympathie gegenüber Chenani nicht uneigennützig. Chenani sprach nicht über die Tuareg; er sprach als Tuareg. Man konnte ihm uneingeschränkt Glauben schenken, wenn er sich über die Menschen der Wüste und ihre Geschichte äußerte.
Weißt du, in gewissem Sinne mißfiel mir das nicht. Chenani war glücklich dabei. Ist es nicht wunderbar, Anerkennung zu finden?«
34
Olivia lächelte. »Chenani war in einer Seriba – einer Schilfhütte –
aufgewachsen. Aber ein Empfang unter Kronleuchtern brachte ihn nicht im geringsten in Verlegenheit. In ihm war Adel, und man sah es ihm an. Er hätte
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