Wuestenmond
nie Klempner werden können, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Stimmt es, daß er mich zur Welt gebracht hat? In einem Zelt?«
»Ja. Ich war im neunten Monat schwanger und hatte mich kein einziges Mal untersuchen lassen. Meine Gedankenlosigkeit grenzte an Leichtsinn, aber ich fühlte mich so leicht, so unbeschwert, daß mir der Gedanke, es könnte etwas schiefgehen, gar nicht in den Sinn kam. Ich hatte auch kaum zugenommen. Wenn ich einen Seruel, die ortsübliche Pluderhose, und darüber eine Gandura trug, merkte kaum jemand, daß ich schwanger war. Nur die Frauen sahen es natürlich und lachten. Sie betasteten meinen Bauch mit wissenden Händen und mahnten mich zur Vorsicht. Mir machte es nichts aus, mit Chenani stundenlang durch die Wüste zu fahren. Er wählte gerade, ebene Sandpisten, und seine behutsame Art zu fahren hielt jedes Angstgefühl von mir fern. Wir waren auf dem Weg zum Lager der Schwiegereltern, als ich die ersten Wehen verspürte. Ich fiel aus allen Wolken. Offenbar hatte ich mich verrechnet, denn ich erwartete die Niederkunft zwei oder drei Wochen später. Zum erstenmal erschrak ich, denn an eine Rückfahrt nach Tarn war in meinem Zustand nicht mehr zu denken. Doch Chenani beruhigte mich: Ich sollte keine Angst haben, er würde mir beistehen. Es war schon dunkel, und nach einer Weile sah ich unweit der Piste ein Feuer glühen. Chenani hielt den Landrover vor einem Zelt an, das sich als rotschwarzer Fleck vom Nachthimmel abhob. Einige Hirten lagerten dort. Ihre Gestalten waren wie Schattenrisse vor dem Hintergrund der Flammen. Chenani sprach mit ihnen, half mir aus dem Wagen und machte sich sofort an die Arbeit. Du wurdest in einer warmen, sauberen Sandmulde geboren. Chenani schnitt die Nabelschnur durch, badete dich in abgekochtem Wasser und wusch meinen Körper ab. Er sagte mit dem ihm eigenen Humor: ›Ich habe schon einige Kamelfüllen zur Welt gebracht, du siehst, ich habe Erfahrung.‹ Ich lachte wie eine Verrückte, obwohl mir die Tränen dabei über die Wangen liefen. Heute weiß ich, daß wir beide entsetzlich leichtsinnig waren, daß ich dein Leben – von meinem eigenen ganz zu schweigen – aufs Spiel gesetzt hatte. Doch wir hatten mehr Glück als Verstand. Ich war jung und kräftig, und Komplikationen traten nicht ein. Du warst ein entzückendes Baby, 35
weder groß noch klein, weder runzlig noch rot, sondern golden wie ein Pfirsich, mit einem schön geformten Köpfchen. Chenani war ganz vernarrt in dich. Ich glaube, er hatte mehr Sinn für kleine Kinder als ich. In den folgenden Tagen bekam ich ununterbrochen Besuch. Sämtliche Familienmitglieder, nahe und ferne Verwandte, oft sogar Leute, die ich noch nie gesehen hatte, versammelten sich um mein Lager, brachten Geschenke und beglückwünschten mich.
Ob du es glaubst oder nicht, es wurde die schönste Zeit meines Lebens.«
Wir lachten ein wenig. Von allem Anfang an hatten sich die Tuareg stets nur ihren eigenen Gesetzen unterworfen. Sie waren Teil der Wüste, verschmolzen mit dem Wind; ihr Leben war hart wie Stahl, grausam wie die Dürre, sanft wie eine Wasserhaut. Ihre Freiheit war unbegrenzt wie der Himmel. Sie waren jahrhundertelang unbesiegbar gewesen. Sie konnten nicht glauben, daß der Wind ihr Todeslied sang. Ihr Ruhm erlosch; es begann eine Zeit des Verlustes, der Armut, der Trauer. Aber ihr Stolz überlebte, und die Legende blieb bestehen.
Chevalliers Gönnerschaft bewirkte, daß Chenani im Museum eine Anstellung als Mitarbeiter bekam. Sein Gehalt war gering, aber die Arbeit machte ihm Freude. Als ich vier Jahre alt war, sollte mein Vater Jean Chevallier und einige Praktikanten als Führer und Dolmetscher in die Zentralsahara begleiten. Die Gruppe reiste in zwei Geländewagen; es war üblich, mittels Autofähren an die afrikanische Küste zu gelangen. Chevallier und seine Begleiter durchquerten Frankreich, schifften sich in Marseille ein. Von Algier aus ging es auf dem Landweg weiter. Die Strecke war damals ungefährlich. Es war kurz vor den Osterferien, Olivia mußte noch unterrichten. Sie hatte vor, mit mir zusammen im Flugzeug nachzukommen und sich mit Chenani in Tarn zu treffen. Ich sollte dann bei den Großeltern im Lager bleiben, während Olivia mit der Gruppe südwärts fahren würde. Doch der plötzliche Klimawechsel erwies sich als verhängnisvoll für Chenani. In Aoulef – etwa achthundert Kilometer nördlich von Tarn – erlitt er einen schrecklichen Asthmaanfall. Und es gab weit und breit keinen
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