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Wuestenmond

Wuestenmond

Titel: Wuestenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Arzt.
    »Als ich mit dir in Tarn eintraf«, erzählte Olivia, »erwartete uns Aflane am Flughafen. Erinnerst du dich?«
    Ich nickte; Aflane war Vaters älterer Bruder und hatte uns, als ich ein Kind war, ein paarmal in Brüssel besucht.
    »Was hat er dir gesagt?«
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    Olivias Stimme klang dumpf.
    »Er sagte, daß Chenani in Aoulef gestorben sei. Und daß man ihn auf dem dortigen Friedhof begraben hatte.«
    Ich schluckte.
    »Daran entsinne ich mich nicht mehr.«
    Olivia wandte den Blick von mir ab.
    »Aflane wollte nicht, daß du es hörst.«
    Ich schwieg, und sie sprach weiter.
    »Zunächst war es unfaßbar. Chenani war einfach weg. Als ob es ihn nie gegeben hätte. Das war das Schlimmste, verstehst du? Bei den Tuareg spricht man ungern von den Toten. Ihre Namen zu nennen wäre respektlos. Der Name, den der Marabut dem Kind bei der Geburt gibt, ist ohne Bedeutung. In der Welt der Nomaden ist der Name eines Menschen sein Eigentum; er kann ihn nach Belieben tragen, aufgeben oder einen neuen wählen. Der Name ist der Mittelpunkt des Menschen, der eigentliche Kern. Die Toten nehmen ihren Namen mit sich aus der Welt, hast du das gewußt?«
    Ich schüttelte den Kopf. Olivia fuhr fort:
    »Aflane hatte für mich ein Hotelzimmer reserviert. Das war ein Fehler von ihm, aber in seiner Fürsorglichkeit wollte er, daß ich es bequem hatte. Ich hatte ganz ruhig mit ihm gesprochen; er muß es als Selbstbeherrschung aufgefaßt haben. Daß ich einfach wie betäubt war, kam ihm nicht in den Sinn. Ich bat ihn, meine Kleine zu der Schwiegermutter zu bringen. Auch das fand er normal.«
    Sie machte wieder eine Pause. Ich wartete.
    »Es geschah dann sehr schnell«, sagte Olivia. »Ich verlor den Verstand. Man kann wahnsinnig werden, weil man es will. Und ich wollte es. Ich schrie nach Chenani, schrie immer nur seinen Namen.
    Ich beschuldigte ihn, mich verlassen zu haben. Wir hatten ein Treffen vereinbart, und er war nicht erschienen! Am Ende wußte ich nicht mehr, wer ich war und wo ich war. Ich war auch nicht mehr sicher, ob ich es war, die schrie. Ich wollte zu ihm, zu Chenani, und schaffte es nicht, mein Körper wollte nicht, wollte es einfach nicht.
    Das Zimmer war dunkel, ich konnte nichts sehen. Stromausfall. Ich mußte es anders versuchen. Irgendwann fand ich die Lösung. Der Mond funkelte wie ein Katzenauge, das ganze Zimmer war grün.
    Auf dem Waschbecken stand ein Zahnputzglas. Ich schlug es gegen den Rand und machte mich an die Arbeit… Gut so… besser! Siehst du, Chenani, wie ich blute? Ich wußte, er würde kommen, als ich die Wärme fühlte und die Kälte aus meinem Körper gezogen wurde.«
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    Ich starrte sie an. Es ging mir durch und durch.
    Sie schlug gelassen ihren Ärmel hoch. Die Narben waren noch sichtbar.
    »Ich schnitt kleine Hautstückchen aus meinen Armen. Ich tat es konzentriert und entschlossen.«
    Als Kind hatte ich wissen wollen, woher die Narben stammten. Von Glasscherben, hatte sie gesagt.
    »Was hast du geglaubt, Tammy?«
    Ein Grauen überkam mich. Ich schüttelte wortlos den Kopf.
    »Es entsprach doch der Wahrheit, oder?«
    Ich bewegte mühsam die Lippen.
    »Schon gut, Olivia. Ich verstehe dich.«
    »Ich hatte das Recht, mit mir selbst zu tun, was ich wollte.«
    Ihr Gesicht war unbeweglich. Ich atmete gepreßt.
    »Wo steht das geschrieben?«
    »Das steht nirgendwo geschrieben.«
    »Ich habe doch gesagt, ich verstehe dich.«
    »Ich legte jedes Stückchen Haut in ein Taschentuch; ganz sorgfältig, in eine Reihe. Und dann in eine zweite. Ich blutete von den Schultern bis zu den Ellbogen. Ich war vollkommen ruhig dabei…«
    Sie schwieg. Ich flüsterte:
    »Weiter…«
    »Im Hotel war man auf mich aufmerksam geworden. Die Schreie, der ganze Lärm… Ein Arzt wurde geholt. Ich hatte mich eingeschlossen. Angestellte brachen die Tür auf. Ich war wütend, ich wollte nicht gestört werden. Ich fiel sie an wie ein wildes Tier. Sie überwältigten mich, der Arzt gab mir eine Spritze. Die Nadel brach in meinem Schenkel ab, so erstarrt waren alle Muskeln. Der Arzt versuchte es ein zweites, dann ein drittes Mal. Endlich gelang es ihm. Ich erwachte zwei Tage später im Krankenhaus. Rebellisch wehrte ich mich gegen das Licht, bis ich schließlich die Augen öffnete. Mein Körper nahm widerwillig seine Funktionen wieder auf.
    Unklar hatte ich das Gefühl, mich falsch verhalten zu haben. Nach einem Moment der Verwirrung wußte ich, warum. Chenani war tot; ich mußte weiterleben und für dich sorgen. Das mußte ich um

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