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Wuestenmond

Wuestenmond

Titel: Wuestenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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jeden Preis. Du warst Chenanis Tochter; er hatte dich mir anvertraut. Er würde es nicht verstehen, Tuareg sind nüchterne Realisten. Ich durfte ihn nicht enttäuschen.«
    Ich biß mir auf die Lippen.
    »Du hattest mir nie etwas davon gesagt. Und ich… ich erinnere mich 38
    kaum an diese Zeit. Im Lager, bei Zara, hatte ich es schön. Jeder spielte mit mir und verwöhnte mich. Zara hatte mir einen kleinen Hund geschenkt. Als du endlich kamst und sagtest, daß wir nach Belgien zurückfahren würden, da wollte ich Chittou mitnehmen.
    Chittou, so hieß er doch, oder? Du hast es mir ausgeredet.«
    »Ja. Man hätte dir nicht erlaubt, das Tier mit ins Flugzeug zu nehmen.«
    »Ich sagte, dann gebe ich Chittou meinem Vater. Er fährt mit dem Wagen und wird ihn mitbringen. Weißt du noch, was du darauf geantwortet hast?«
    Olivias Kiefermuskeln verkrampften sich.
    »Daß dein Vater auf Reisen gegangen sei. Und daß es besser wäre, wenn der kleine Hund bei Zara bliebe.«
    »Ich hatte wissen wollen: Kommt mein Vater bald wieder?«
    »Und ich habe gesagt: Noch nicht, Tammy, noch nicht, aber er wird kommen. Das hat er mir ganz fest versprochen.«
    Ich sah ihr in die Augen.
    »Hatte er das?«
    Sie schaute auf ihre Hände hinunter.
    »Damals noch nicht.«
    Ich betrachtete ihr schmales, gutgeschnittenes Gesicht. Sie ist in ihrem Wesen widersprüchlich, dachte ich, in ihrem ganzen Wesen undefinierbar.
    »Was willst du damit sagen, Olivia?«
    Sie runzelte die Stirn.
    »Ich weiß nicht, ob du es verstehen wirst…«
    »Ich bin kein Kind mehr.«
    »Später sprach er zu mir.«
    Ich schwieg, bewahrte meine Geduld. Sie legte ihre Finger an ihre Wangen.
    »Als es mir besser ging, wollte ich Chenanis Grab sehen. Aflane davon zu überzeugen war einfacher, als ich es mir vorgestellt hatte.
    Sein Einfühlungsvermögen war ganz erstaunlich. Er stellte keine Fragen. Er sagte lediglich: Ich hole den Wagen, wir fahren, wann du willst.«
    Sie schien zu überlegen. Ich wartete.
    »Die Reise. Ja, an die Reise erinnere ich mich gut. Achthundert Kilometer in Aflanes Landrover. Der alte Klapperkasten ratterte, als bräche er in der nächsten Sekunde auseinander. Die Bewohner der Sahara denken anders als wir. Der Wagen war fahrtüchtig, und 39
    Entfernungen spielen keine Rolle. Aflane fuhr mit heruntergekurbeltem Fenster. Der Fahrtwind wehte mir ins Gesicht.
    Ich redete nicht, auch nicht von Chenani. Aflane sprach nicht mit mir, wenn ich nicht wollte. Manchmal fuhr er stundenlang, ohne ein Wort zu sagen. Verstohlen beobachtete ich sein Profil, seine Hände auf dem Lenkrad. Die Hände glichen denen Chenanis, die gleiche Form, die gleiche Kraft, nur die Hautfarbe war dunkler. Ich wollte weinen, aber es gelang nicht. Wir brauchten vier Tage für die Reise.
    Es gab keine Unterkunft, und es war eiskalt. Wir übernachteten im Freien. Aflane entfachte ein Feuer, machte Tee. In der Dunkelheit glomm seine Zigarette rötlich. Ich hatte Husten, Fieber und entsetzlichen Durst. Ich konnte kaum Nahrung bei mir behalten.
    Aflane schälte Orangen, schob mir die Scheiben einzeln in den Mund. Meine Verletzungen entzündeten sich; jeden Abend mußte ich die Verbände erneuern. Aflane half mir dabei. Kam Sand in die Wunden, brannte es höllisch. Aflane hüllte mich in Decken und nahm mich in die Arme. Ich legte den Kopf an seine Schulter, ich spürte und roch seinen Geruch nach Sand und Leder, hörte seine Atemzüge. In seiner Obhut konnte ich schlafen. Zumindest glaube ich, daß ich geschlafen habe. Ich schrie nicht mehr, oder nur noch selten. Ich wußte, ich war auf dem Weg zu ihm, zu Chenani. Dieses Wissen gab mir Kraft.«
    Olivia machte eine Pause; im Licht der sinkenden Sonne waren ihre Augen durchsichtig wie Glas.
    »Damals war Aoulef ein trostloses Nest mit flachen Lehmbauten, einem kleinen Palmenhain. Einige ehemalige Gebäude der französischen Fremdenlegion waren zu Steinruinen geworden. Seit vielen Jahren wohnte niemand mehr dort. Die Oasenbewohner benutzten sie als Toiletten. Ich fragte Aflane nach dem Friedhof. Er sagte: ›Bald wird es dunkel, warte lieber bis morgen. Es könnte gefährlich sein.‹ Ich sah ihn an. Was mochte hier schon gefährlich für mich sein?
    ›Streunende Hunde‹, sagte er.
    Ich erwiderte: ›Ich habe keine Angst.‹
    Der Friedhof lag auf einer Anhöhe. Er war umgeben von einer niedrigen, mit Kalk geweißten Mauer. Die Gräber wurden durch Steine gekennzeichnet. Alle Verstorbenen wurden mit dem Kopf nach Osten, in die Richtung nach

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