Wuestenmond
mir der intensiven Elektrizität bewußt, die sich unsichtbar und drohend in der Luft bewegte. Hier waren die Geister zornig. Sogar die Kamele spürten es; sie klebten vor Hitze, rochen nach beißendem Urin.
Elias hielt sein Tier auf einer kleinen Anhöhe an.
»Nach unserem Stammesgesetz durfte der Amenokal, dessen Titel
›Herr des Erdbodens‹ bedeutet, nicht in einem Haus leben. Dieser 298
Ort war für uns insofern wesentlich, weil sich bei unserer ältesten Siedlung Abalessa, in kurzer Entfernung von hier, das Grab unserer Herrscherin Tin-Hinan befindet. Sie war die Begründerin unserer Dynastie. Wir stammen alle von ihr ab.«
Ich runzelte die Brauen.
»Wer war sie? Weiß man etwas über sie?«
»Sie war ein Nachkomme jener Fürsten, die am römischen Kaiserhof verkehrten und später den Süden Spaniens eroberten. Gelebt hat sie im fünfzehnten Jahrhundert. Sie ist die erste geschichtlich belegte Tamenokalt – wobei die beiden ›T‹ die weibliche Form des Titels Amenokal bilden. Aber unser Volk wurde auch früher vorwiegend von Königinnen regiert.«
»Wie kam das?«
»In unserer Wertvorstellung stellt das weibliche Prinzip das schöpferische Element dar. Unser Mythos erzählt, daß der Mann von der ersten Frau Seele und Bewußtsein empfing. Die Geschichte von Adam und Eva, sozusagen, aber in umgekehrter Form, und ohne den strafenden Engel! Erst später, unter arabischem Einfluß, gewann der Amenokal an Bedeutung. Aber die Tradition vermachte seiner älteren Schwester oder seiner Mutter eine starke politische Machtstellung.
Ihr Einfluß war enorm.«
Beim Erzählen lenkte Elias seinen Falben in langsamem Schritt die Dünen entlang.
»Tin-Hinan herrschte mit großer Klugheit und schenkte mehreren Töchtern das Leben. Vor ihrem Tod bestimmte sie den Ort ihrer’fieisetzung. Dort, wo man ihren Grabhügel errichtete und mit einer Steinplatte versiegelte, sprudelte eine Quelle aus dem Boden.
Über fünfhundert Jahre ruhte Tin-Hinan in Frieden. 1932 entdeckten französische Archäologen die Grabstätte und öffneten sie. Der damals regierende Amenokal Akhamuk ag Ihemma versuchte erfolglos, sie von diesem Frevel abzuhalten. Die Franzosen drangen in die Grabstätte ein. Sie fanden die Gebeine einer Frau auf einer Bahre aus geschnitztem Holz. Ihr Antlitz schaute in Richtung der aufgehenden Sonne. Neben ihr ruhten ihre Waffen: ein Bogen mit Pfeilen, ein Köcher, ein Dolch und ein prachtvolles Schwert. Die Königin war mitsamt ihrem Schmuck beigesetzt worden. An den Arm- und Fußgelenken trug sie Reifen aus massivem Silber und um den Hals ein Geschmeide aus hundert goldenen Sternen. Als man ihr ledernes Leichentuch anhob, zerfiel es zu Staub. Ihre Überreste kamen ins Ethnographische Museum von Algier. Vom 299
Goldgeschmeide fehlt jede Spur. Irgend jemand wird schon wissen, wo es hingekommen ist. In eine Privatsammlung, nehme ich an.«
Elias führte sein Mehari zu einer Stelle, auf der bei genauem Hinsehen eine Fläche von einigen Quadratmetern noch schwärzlich verfärbt war.
»Die Quelle ist heute versandet, das Grabmal leer. Aber damals, als ich Kind war, galt der Amenokal noch immer als Hüter der heiligen Stätte. Der letzte Herrscher, Hadj Bey ag Akhamuk – unser Großonkel also – bewohnte eine Seriba in der Mitte des Lagers.
Genau hier, siehst du? Im Grunde waren es drei Schilfhütten, die durch eine Anzahl Asabar – Windschutzmatten – verbunden waren.
Die Seribas maßen neun Meter im Quadrat, jeder Eingang schaute nach Osten. Die Schilfe wurden in der Länge nicht beschnitten, so daß der Wind in den überstehenden Blättern raschelte.«
Ich kniff die Augen zu.
»Ja… ich erinnere mich an dieses Geräusch. Es klang angenehm und frisch.«
Elias nickte.
»Unsere Seriba stand ganz in der Nähe. Ich entsinne mich gut, wie der Amenokal die Amrar der verschiedenen Stammesverbände empfing, die ihm Tribut in Form von Geld oder Naturalien zahlen mußten.«
Ich brauchte Zeit, um die Bilder in meinem Inneren zu ordnen, sie formten sich allmählich zu Sequenzen. Ich sah einen verschleierten Mann mit untergeschlagenen Beinen vor einer Seriba sitzen, die es längst nicht mehr gab. Seine Umrisse verschwammen in der flimmernden Luft, seine Gestalt schien zwischen Sand und Himmel zu schweben. Er trug zwei Ganduras übereinander, eine blauweiß gestreifte und eine schwarze. Der weiße Schesch, der gleichzeitig auch den Gesichtsschleier bildete, fiel in üppigen Falten über seine Brust. Seine Augen
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