Wuestenmond
mich auf einem Stein abstützte. Hawad sprach ein paar Worte.
Elias übersetzte:
»Er ist glücklich, dich zu sehen. Er meint, daß du deinem Vater 304
gleichst, den er als kleines Kind in seinen Armen trug.«
Der Schwarze nickte mit Nachdruck, als ob er jedes Wort verstanden hätte. Dicke Tränen verschleierten seine Pupillen. Elias stellte ihm einige Fragen, die Hawad mit freudlosem Mienenspiel beantwortete.
Sein zerlumpter Schesch wirkte wie der Kopfverband eines Verwundeten. Plötzlich bückte er sich, nahm eine Handvoll Sand auf, führte sie zu seinem Gesicht und rieb sich die Augen. Ich fuhr vor Entsetzen zusammen.
»Nein!«
Der Alte wischte sich mit seinem schmutzigen Lumpen über die Augen. Elias wandte sich mir zu.
»Er leidet unter Trachom. Du hast doch Augentropfen? Und ein reines Taschentuch…«
Ich wühlte in meinen Sachen, brachte das Gewünschte hervor. Leise und höflich sagte Elias einige Sätze. Hawad hob vertrauensvoll das Gesicht zu ihm empor. Die Lider, die schwer auf den blutunterlaufenen Augen lagen, waren nur noch sandverklebte Schlitze. Behutsam und geschickt reinigte Elias die schrecklich geröteten Augen. Mit dem Taschentuch tupfte er den Eiter ab, löste die verklebten Wimpern voneinander. Nach der Behandlung mit den Augentropfen schien sich Hawad ein wenig wohler zu fühlen.
»Das Trachom kommt von den Fliegen und führt zum Erblinden«, sagte Elias. »Er hat auch Skorbut. Das bewirkt die karge Ernährung.
Aber er ist zu arm, um sich behandeln zu lassen.«
Er gab Hawad die Augentropfen und das Taschentuch. Dann brachte er eine zerschlissene Brieftasche zum Vorschein, nahm einige Geldscheine heraus und drückte sie dem Alten in die Hand.
»Tanemered, tanemered – danke!« wiederholte Hawad mit zitternder Stimme. Elias gab ihm auch einen Stock Zucker, Tee und unsere letzten Orangen. Hawad murmelte Dankesworte in seinem heiseren Singsang, wobei er die Geschenke in die Tasche seiner dreckigen Gandura stopfte.
»Komm!« sagte Elias und half mir in den Sattel. Hawad faßte nach Elias’ Hand, preßte sie an seine Stirn und gab ihm seinen Segen. Es war kein Schmerz mehr in seiner alten Stimme, nur Dankbarkeit und Freude. Dann humpelte er auf die Seite, und Elias stieg in den Sattel.
Als wir uns entfernten, blickte er uns lange nach, obwohl ich nicht glaubte, daß er uns sehen konnte.
»Was wird jetzt mit ihm geschehen?« fragte ich.
»Nichts. Er wird sterben. Es ist sein Wunsch. Ich kann das 305
verstehen.«
Die algerische Regierung, erklärte er, hatte die Leibeigenen befreit, eine unbedingt notwendige Maßnahme. Aber für viele dieser Menschen war die Freiheit ein abstrakter Begriff. Nie hätte eine Tuaregfamilie die Schande auf sich genommen, kranke oder betagte Diener zu entlassen. Bis zu ihrem Tod war für ihren Lebensunterhalt gesorgt.
»Sie teilten unsere Mahlzeiten, ihre Kinder wurden mit den unsrigen groß. Heute müssen sie sehen, wie sie sich durchschlagen. Alte Menschen wie Hawad stehen vor dem Nichts. Vom Sinn der neuen Entwicklung verstehen sie nicht viel. Sie fühlen sich betrogen und verlassen. Hawad war mein erster Lehrer.«
»Dieser verkrüppelte alte Mann?«
»Hawad war nicht immer alt und blind. Er war ein Jäger, ein Fährtensucher.«
Ich wollte mehr erfahren. Elias erzählte halb abwesend, den Blick in die Ferne gerichtet. Seine dumpfe Stimme spiegelte die Trauer, die ihn beherrschte.
»Ein Junge will die Umgebung erkunden. Amenena ließ mich gewähren, hatte jedoch Hawad den Auftrag erteilt, mich zu bewachen. Täusche dich nicht: Hawad war verkrüppelt, hatte aber den Schritt eines Geparden. Meinen Vater hätte ich sofort gehört, wenn es ihm eingefallen wäre, mir zu folgen. Was Hawad anging, der mir stets wie ein Schatten folgte, so vermutete ich lange Zeit nichts. Er war es, der mir die Wüste nahebrachte. Damals fragte ich nie, woher dieser Mann sein Wissen nahm. Ich folgte ihm und sah auf all das, was für das ganze Leben da ist. Ja, und irgendwie hat er mich zu dem gemacht, was ich bin.«
Hawad hatte dem Jungen beigebracht, im Sand zu lesen wie in einem offenen Buch. Im vertrauten Umgang mit der Natur erkannte Elias bald mit sicherem Instinkt, was ihm nützte, was Furcht bereitete und was ganz einfach nur schön war. Hawad liebte und beschützte ihn, wie ein Vater es tun würde. Er führte Elias zu den Wasserstellen, ließ ihn selbst den Weg dabei suchen. Er erklärte ihm, wie man an den fast unbemerkten Schwingungen des Lichtes und des
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