Wuestenmond
und waren – auf höchst unerfreuliche Weise – den Eroberern im Weg.«
291
Elias nahm einen Schluck aus der Thermosflasche.
»Im Jahr 1902, kurz nach dem Aid-El-Kebir-Fest am ersten März brach der zweite Adjutant des Nebenpostens Ain Salah, Leutnant Cotennest, an der Spitze einer Reiterschwadron von einhundertdreißig Mann in den Ahaggar auf. Jeder Soldat war mit einem Karabiner ausgerüstet und führte hundertzwanzig Patronen sowie Wasser und Lebensmittelvorräte für dreißig Tage mit sich.
Während seines Vorrückens durch die Vorberge ließ Cotennest systematisch unsere Anbauzentren für Weizen, Hirse und andere Getreidearten verbrennen und zerstören. Der Mann war gewitzt, ein kluger Stratege. Unsere Angriffsmanöver vereitelte er immer wieder.
Und so kam es, daß wir uns erst am siebten März im Wadi Tit zum Kampf stellten. Wir waren ein Volk, das den Tod nicht fürchtete, sosehr wir auch das Leben liebten. Wir schöpften unsere Kraft aus der Bewunderung der Frauen, hätten nichts von dem vollbringen können, was geleistet wurde, wenn wir nicht ihrer Lieder gedacht hätten. Doch Eitelkeit blendet die Augen und zerbricht, wenn das Glück sich wendet. Sie mochte dem einzelnen wohl die Kraft geben, sein Leben zu meistern, nicht aber dem Volk, es zu sichern.«
»Ein bißchen größenwahnsinnig, ja?«
»Absolut größenwahnsinnig. Der Feind führte Waffen, deren Furchtbarkeit wir uns nicht einmal vorzustellen vermochten.
Vielleicht hatten wir mit dergleichen gerechnet. Wir hatten Menschen getroffen, die das alles schon kannten und uns gewarnt hatten. So wußten wir wohl auch, wie es ausgehen mochte.«
Elias schnippte die Asche von seiner Zigarette.
»Die Feinde wollten den Krieg? Gut, sie sollten ihn haben. Die Stunde und den Ort bestimmten wir.«
»Hier?« murmelte ich.
»Auf der anderen Seite der Böschung.«
»Am frühen Morgen?«
»Die Sonne ging auf. Der Himmel war hell.«
»War es ein guter Tag zum Kämpfen?«
»Nein. Es war ein lausiger Tag zum Sterben. Sitz gerade, schließ die Augen! Wir gehen etwas sehen.«
Ich flüsterte rauh:
»Das stimmt nicht, was du gesagt hast, Elias. Du kannst es auch.«
»Nein. Nicht gut. Aber das hier habe ich schon gesehen.«
Ich schloß die Augen. Zwischen uns herrschte Schweigen. Ich hatte meine Vorstellungskraft nie als bemerkenswert empfunden, außer 292
natürlich, wenn ich Bilder auf die Leinwand bannte. Vielleicht war dies eine ähnliche Sache? Mein Puls ging schneller. Mein Atem war zunächst kraftvoll tief, dann flach und kaum hörbar. Ich dachte, was soll das ganze Zeug, ich schlaf ja bloß dabei ein. Das machte die verflixte Sonne, die jetzt tiefer stand und mir ins Gesicht schien.
Gleich holte ich mir wieder einen Sonnenbrand, da half der Schesch auch nicht viel. Zum Glück kam Wind auf, das tat gut. Er fegte merkwürdige Geräusche heran, irgendwo in der Nähe hielten sich Leute auf. Die Sonne blendete. Ich blinzelte verwirrt. Am Horizont glaubte ich eine undeutliche, auf und ab schwankende Linie zu sehen. Sie kam näher, nahm festere Formen an. Plötzlich sah ich durch den Nebel die Kamelreiter. Sie tauchten auf der Dünenkuppe auf, von Kopf bis Fuß in indigoblauen Stoffen. Ihre Kopfbedeckungen funkelten wie Metall. Sand umwirbelte die Füße der weißen Rennkamele. Prächtig wie Statuen, in knisternde Stoffe gekleidet, trabten die Reiter näher, ihre Umhänge blähten sich im schnellen Lauf. Zwischen den Falten ihrer Gesichtsschleier blitzten die Augen wie Lavasteine. Sie sahen mich, sie sahen durch mich hindurch. Ich hatte das Gefühl, sie zu kennen, diese blauverschleierten Krieger. Ich konnte sogar die einzelnen Stämme unterscheiden – an ihrer Kleidung, an ihren Schwertern, an ihren Schildern aus blaugefärbter Antilopenhaut. Die Namen kamen mir ganz mühelos in den Sinn: Kel Rela, Iboglan. Dag Rali, Iradjenaten, Inemba Kel Tahat, Inemba Kel Imori.
Es war der siebte März gewesen, hatte Elias gesagt. Es war – wie sonderbar – der Tag, an dem ich geboren wurde.
Im weichen Trab der Mehara stürmten die Krieger die Abhänge des Wadi Tits, rückten gegen das auf einem Felshügel verschanzte Bataillon der Franzosen vor. Über sandigen Boden hinweg näherten sie sich in schnellem Lauf. Die Franzosen sahen die Sandwirbel aufsteigen; ein Vulkanausbruch, der die Erde überzog. Aus dem anfangs unbestimmten Stampfen wurde ein Schlagen, ein Dröhnen, ein Trommelwirbel. Die Krieger, hoch aufgerichtet, schienen zu fliegen. Auf Speerspitzen
Weitere Kostenlose Bücher