Wuestentochter
Tage lang folgten sie dem Fluss Khash. Links von ihnen ragte der verschneite, im klaren Licht violett leuchtende Gipfel des Kuh-e-Sangan auf. Dann kehrten sie dem Berg den Rücken zu und ritten in das Tal Helmand, eine grüne, von einem eiskalten Schmelzwasserbach durchzogene Senke. Diesem Wasserlauf folgten sie gleichfalls mehrere Tage, während derer die Berge ringsum immer mächtiger zu werden schienen.
»Dort«, sagte Sulayman eines Morgens, als Khalidah den gefrorenen Tau der Nacht von ihrer Decke schüttelte. Er deutete auf eine Bergkette in der Ferne, die höher war als alle, die sie bislang gesehen hatten. »Das ist der Hindukusch. Irgendwo in diesen Bergen …«
Wirst du erkennen, ob du mich liebst oder nur meine Verbindung zu dem Land, nach dem du dich so sehr sehnst, dachte Khalidah, doch obwohl sie sich sofort für diesen Gedanken schämte, ließ er sich einfach nicht mehr abschütteln. Sie trank ihren Tee aus und erschauerte, als er in ihrem Mund brannte. Sie hatten an einer Stelle ihr Lager aufgeschlagen, wo der Fluss schmal und das Tal tief war. Das Sonnenlicht würde erst gegen Mittag hier einfallen, und dann auch nur für eine oder zwei Stunden. Khalidah drehte sich zu den Pferden um und betrachtete sie bekümmert. Trotz der üppigen Weideflächen wurden sie immer magerer; sie konnten das Gras nicht so schnell fressen, wie Kälte und Strapazen an ihrem Fleisch zehrten.
»Bald wird es besser«, flüsterte sie Zahirah zu, und tatsächlich wurden die Bedingungen während der nächsten Tage erträglicher. Irgendwo südwestlich von Kabul wandten sie sich vom Fluss ab und überquerten die Shomali-Ebene; eine weitläufige, fruchtbare Fläche voller Wein- und Obstgärten, zwischen denen kleine Lehmhütten wie Ameisenhügel aufragten. Wenn sie durch diese Ansiedlungen ritten, lachten die Kinder sie an, und Frauen boten ihnen Tee, getrocknete Aprikosen und noch grüne, harte Maulbeeren an.
Doch diese erholsame Phase hielt nicht lange an. Von den Gärten von Shomali wand sich ein Pfad in das Baba-Gebirge hinauf, den ersten knorrigen Finger des Hindukusch, und schlängelte sich an der Seite der Berge entlang. Stellenweise war er mit einer Eisschicht überzogen und fiel manchmal Tausende von Fuß zu trostlosen Tälern aus rötlichem Stein und Staub ab.
Trotz der unwirtlichen Gegend trafen sie zu Khalidahs Erstaunen auf zahlreiche andere Reisende, besonders, als sie sich dem Chayber-Pass näherten, der einzigen Route, die von Kabul in den Orient führte. Jedes Mal, wenn ihnen ein Reisender auf dem Weg gen Westen entgegenkam, schloss Khalidah die Augen und betete, dass Zahirah nicht ausglitt, wenn sie sich auf dem Pfad, der kaum breit genug für einen Reiter war, aneinander vorbeidrängten. Manchmal stießen sie auf kleine Dörfer, die an den Berghängen klebten wie Pilze an den Stämmen großer Bäume. Frauen und Kinder kauerten vor armseligen Lehmhütten und beobachteten die vorbeireitenden Reisenden mit unbestimmter Sehnsucht.
Nach einem zweitägigen kräftezehrenden Aufstieg erreichten sie den Pass und begannen auf der anderen Seite mit dem Abstieg: Sulayman mit gelassener Ruhe, Khalidah in dem Bemühen, die ständigen Schwindelanfälle zu unterdrücken, die die Höhe in ihr auslöste. Tiefer und tiefer ging es, bis ihre Beinmuskeln von der Anstrengung, stundenlang mit nach hinten verlagertem Gewicht zu reiten, heftig zu schmerzen begannen. Doch als sie um eine kurze Rast bat, beschied Sulayman sie mit einem knappen: »Noch nicht.«
Sie war wütend auf ihn - wütender, als sie es je zuvor gewesen war -, weil er sich ihrer Meinung nach wieder einmal absichtlich stur stellte und auf sie nicht die geringste Rücksicht nahm. Eine Stunde lang malte sie sich genüsslich aus, was für Schmähungen sie ihm entgegenschleudern würde, sobald sie Halt machten, und dann verstand sie plötzlich, warum er ihrer Bitte nicht entsprochen hatte. Sie waren in ein Sandsteintal gelangt, über dessen Sohle sich grüne Weiden und frisch beackerte Felder zogen. Hinter den dazugehörigen Bauernhöfen schmiegte sich eine kleine Stadt an den Fuß der Berge, und hoch über dieser Stadt waren drei große bogenförmige Nischen in den Sandstein gehauen. Sie beherbergten aus Stein gemeißelte Statuen, deren Züge Khalidah aus der Entfernung noch nicht erkennen konnte.
»Wo sind wir hier?«, fragte sie, als sie zwischen Weizenfeldern hindurch auf die Stadt zuritten.
»In Bamiyan«, erwiderte Sulayman. »Der einst bedeutendsten
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