Wuestentochter
Stadt in Khorasan und Mittelpunkt der Seidenstraße. Egal ob man früher von Peking nach Rom oder von Samarkand nach Jaipur gereist ist, man kam durch Bamiyan hindurch.«
»Also sind die Statuen dort oben Abbilder von kafir-Göttern?«
»Sie stellen Buddha dar«, entgegnete Sulayman. »Einen Propheten, der …«
»Ich weiß, wer Buddha war«, gab Khalidah gereizt zurück. »Aber was haben seine Statuen in einem muslimischen Land zu suchen?«
»Dieses Land war nicht immer muslimisch.« Sie befanden sich jetzt nah genug bei den Klippen, um feststellen zu können, dass sie mit kleinen Höhlen durchsetzt waren wie ein Bienenkorb mit Waben. Sulayman deutete darauf, als er mit seinen Erklärungen fortfuhr. »Siehst du das? Das waren buddhistische Kapellen und Klöster. Hier lebten einst Tausende von Mönchen, die Reisenden und Pilgern Obdach gewährten. Heute stehen sie leer, aber du kannst immer noch die Statuen und Bilder sehen, die die Mönche während ihrer Zeit hier angefertigt haben - Mönche und andere Künstler. In diesen Höhlen findest du chinesische Kalligraphie und tibetische Mandalas Seite an Seite mit Darstellungen von Ganesha und Zeus und dem Propheten Jesus.«
Mittlerweile konnten sie im Licht der sinkenden Sonne auch die Züge der Buddhas ausmachen; ihre Augen unter schweren Lidern und ihr zum Tal gewandtes friedlich heiteres Lächeln. Der größte von ihnen war so hoch wie die Höhle in Wadi Tawil, in der sich Khalidah vor Monaten vor dem verborgen hatte, was sie für ihr unausweichliches Schicksal gehalten hatte.
»Früher haben diese Statuen in leuchtenden Farben geprangt, habe ich gehört«, sagte Sulayman. »Sie waren bunt bemalt oder vergoldet und mit funkelnden Juwelen geschmückt. Ich nehme an, die Zeit und Diebe haben hier ihr zerstörerisches Werk getan.«
»Lass uns dort hinaufsteigen«, schlug Khalidah vor. »Wir können heute Nacht doch in einer dieser Höhlen schlafen.«
Sulayman lächelte. »Genau das hatte ich auch vor. Sie haben in der Vergangenheit Tausenden von Reisenden als Quartier gedient, und wir haben ohnehin nicht mehr genug Geld, um in der Stadt zu übernachten.«
So schlugen sie einen Bogen um das, was von der einst so stolzen Stadt Bamiyan übrig geblieben war, und führten die Pferde über schmale Pfade und bröckelige Steintreppen die Klippen hinauf. Sie fanden eine Höhle, die tief genug in den Fels hineinreichte, um ihnen Schutz vor dem Abendwind zu bieten, und hoch genug war, dass die Pferde darin stehen konnten. Sulayman entzündete ein Feuer, in dessen flackerndem Schein Khalidah die mit Fresken bedeckten Wände betrachtete. Auf einem Bild bahnten sich in blutrote Gewänder gehüllte Männer mit schmalen orientalischen Augen einen Weg durch ein Feld voller Blumen; ein anderes zeigte einen von mondweißen Pferden gezogenen und von einem Mann mit prachtvollem Haar gelenkten goldenen Streitwagen, der über einen azurblauen Himmel jagte. Als sie endlich den Blick davon loszureißen vermochte und sich zu Sulayman umdrehte, lag dieser der Länge nach ausgestreckt auf dem Boden und sah mit halb geschlossenen Augen zu den Deckenmalereien empor.
»Wie weit ist es noch bis Qaf?«, fragte sie ihn.
Sulayman schwieg eine Weile. Endlich sagte er: »Ich weiß es nicht.«
Khalidah trat zu ihm und blickte auf ihn hinab. »Was soll das heißen?«
Er setzte sich seufzend auf. »Erinnerst du dich noch an das, was ich dir über meine erste Reise nach Qaf erzählt habe? Ich war bewusstlos, als ich dort ankam, und ich war bewusstlos, als ich wieder fortgebracht wurde. Wir können einen oder hundert farsakhs von Qaf entfernt sein. Aber das Dorf, in dem ich unter dem Cannabisbusch erwacht bin, liegt nur ein paar farsakhs von hier. Ich denke, wir reiten dorthin - und dann können wir nur hoffen.«
Khalidah starrte in die Dunkelheit hinter dem Höhleneingang hinaus und fragte sich plötzlich, worauf sie eigentlich hoffte.
30
In den folgenden Tagen war Bilal so glücklich wie nie zuvor. Der Sturm hielt mit unverminderter Heftigkeit an, und er betete zu Allah, dass er noch lange nicht nachlassen möge, wenn das bedeutete, dass er auch weiterhin seine Tage mit Salim und ihrem Schachbrett und ihrer banj-Pfeife in ihrem Zelt in dem staubigen Wadi zubringen konnte. Aber die einzige Sicherheit im Leben besteht darin, dass sich alles ändert, hatte seine Mutter immer gern gesagt, und so geschah schließlich das Unvermeidliche, und der Sturm ebbte ab. Einmal mehr brach die Armee des
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