Wuestentochter
Melodie an.
»Wo kommt diese Musik her?«, fragte Khalidah. Abi Gul warf einen Blick auf ihr verzücktes Gesicht und verdrehte die Augen, was Khalidah nicht verstand, bis sie Sulayman inmitten einer Gruppe von Musikern am Feuer sitzen sah. Er hielt das eigenartige Instrument in der Hand und sah lächelnd zu ihr auf. Khalidah erwiderte das Lächeln, dann drehte sie sich zu Abi Gul um, doch diese war verschwunden.
Khalidah gesellte sich zu den Zuschauern, die die Musikanten umringten. Der Hals des Instruments, das Sulayman spielte, war länger als der einer jeden oud, die Khalidah je gesehen hatte. Dreizehn verschiedenfarbige Fäden markierten die Griffleisten der fünf Drahtsaiten, über die Sulaymans Finger tanzten wie Schmetterlingsflügel. Er spielte einige weitere Variationen der klagenden Melodie, dann reichte er die oud unter dem Beifall seines Publikums einer Frau in der Menge.
»Was war das für ein Instrument?«, fragte Khalidah, als er zu ihr trat.
»Eine Art sitar«, erwiderte er.
»Wo hast du gelernt, es zu spielen?«
Sulayman zuckte die Achseln. »Es unterscheidet sich nicht sehr von einer oud.«
»Und woher stammt die Melodie?«
»Die habe ich bei meinem letzten Besuch hier gelernt.«
»Wirst du eigentlich je aufhören, mit immer neuen Überraschungen aufzuwarten?«, erkundigte sich Khalidah trocken.
Er lächelte leise. »Hoffentlich nicht, sonst müsste ich ja befürchten, dass du dich in meiner Gegenwart langweilst.«
»Diesen Tag werde ich wohl nie erleben«, gab sie trocken zurück.
Er legte ihr lachend einen Arm um die Taille. Khalidah sah sich ängstlich nach allen Seiten um, aber niemand schien diese vertrauliche Geste zu bemerken oder gar Anstoß daran zu nehmen - ganz im Gegenteil, denn jetzt entdeckte sie auch noch andere Paare, die sich ähnlich verhielten. »Die Dschinn betrachten viele Dinge mit anderen Augen«, erklärte Sulayman, dem ihr Unbehagen und der Grund dafür nicht entgangen waren. »Keine Angst, niemand hier zweifelt an deiner Ehrbarkeit.« Khalidah nickte, obwohl sie nicht recht wusste, ob sie ihm glauben sollte. »Komm jetzt«, drängte er. »Du musst dir die Tänzer ansehen.«
Sie kämpften sich zum Rand der Menge durch, wo sich schattenhafte Gestalten in der Dunkelheit drehten und umherwirbelten. Die Tänzer bildeten einen Ring: Die Männer und Jungen vollführten in der Mitte davon wilde Verrenkungen, während die Frauen sie, den Arm jeweils um die Schulter ihrer Nachbarin gelegt, mit langsamen, anmutigen Bewegungen umkreisten.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, erkundigte sich Khalidah. »Und sag mir jetzt bitte nicht, dass mir irgendjemand alles später erklären wird.«
Sulayman schüttelte den Kopf. »Ich werde mich hüten. Aber du solltest besser Abi Gul fragen.«
Khalidah drehte sich um und stellte fest, dass sich ihre Freundin wieder zu ihnen gesellt hatte. »Sie bitten die Götter und Göttinnen, die Herden und die Felder zu segnen und uns eine reiche Ernte zu schenken«, entgegnete Abi Gul, dabei reichte sie jedem von ihnen einen Becher Wein.
»Und wer sind eure Götter und Göttinnen?«
Abi Gul zögerte, dann sagte sie: »Am Ende des Abends wird jemand die Schöpfungsgeschichte vortragen. Sie wird dir Antworten auf die meisten deiner Fragen liefern - auch auf einige, die du dir noch gar nicht gestellt hast.«
Seufzend nippte Khalidah an ihrem Wein und richtete sich auf eine längere Wartezeit ein. Das Fest nahm mit Essen, Trinken, Musik und Tanz seinen Fortgang. Die Mädchen überredeten sie, an einigen Tänzen teilzunehmen, die sich zu ihrer Überraschung als nicht sonderlich schwierig zu erlernen erwiesen. Nach einiger Zeit gab der sitar-Spieler auf und überließ den Trommlern das Feld, die einander mit immer schnelleren und komplizierteren Wirbeln zu übertreffen versuchten, während die Zuschauer sie begeistert anfeuerten. Die Tänzer zogen sich nach und nach zurück, und als der letzte erschöpft zu Boden gesunken war, verstummten die Trommeln plötzlich. Einen Moment später löste sich eine Gestalt aus dem Schatten und schritt zur Mitte des Kreises: Tor Gul Khan.
Er war ähnlich gekleidet wie alle anderen auch, nur war sein Gewand nicht bestickt, und auf seinem Kopf saß keine wollene Kappe, sondern ein bunter, golddurchwirkter Turban. Sein Gesicht hatte die Farbe von Tee mit einem Schuss Milch, seine Augen leuchteten so golden wie die eines Adlers, seine Nase war scharf geschnitten und nicht übermäßig lang, das Kinn glatt rasiert
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