Wuestentochter
machten nicht den Eindruck, als handele es sich um die abgelegten Kleider anderer Frauen. Doch ehe sie weiter über dieses neue Rätsel nachgrübeln konnte, zückte Abi Gul einen Kamm und bat Khalidah, sich zu setzen, damit sie sie frisieren konnte. Diesmal flocht sie Bänder und Kaurimuscheln in die Zöpfe, und als sie fertig war, förderte sie einen dunkelblauen, mit Pferdefiguren bestickten Schal zu Tage.
»Er ist wunderschön.« Khalidah fuhr bewundernd mit dem Finger über die feinen Stiche. »Wer war denn die Künstlerin?«
Abi Gul schwieg darauf, aber das Blut, das ihr in die Wangen stieg und die mit Stolz gepaarte Verlegenheit in ihren Augen waren für Khalidah Antwort genug. Gerührt sagte sie: »Vielen Dank, Abi Gul … ich hoffe, es kränkt dich nicht, wenn ich dich frage, wie du darauf gekommen bist …«
»Wir wussten schon lange, dass du zu uns kommen würdest, Khalidah bint Brekhna«, unterbrach Abi Gul sie, griff nach einem Tiegel mit kohl und einem Pinsel und begann Khalidahs Augen schwarz zu umranden. »Ist es dir unangenehm, wenn ich das sage?«
Die Antwort kam für Khalidah ebenso unerwartet, aber nicht überraschend wie der Umstand, dass sie bestimmte Paschtu-Worte verstand. »Wie könnte es - nachdem ihr mich so herzlich aufgenommen habt«, gab sie zurück.
»Eines würde mich wirklich interessieren.« Abi Gul hielt mit ihrem Tun inne, der Pinsel verharrte reglos in der Luft. »Wie hat Sulayman dich dazu gebracht, mit ihm zu gehen?«
Khalidah, die mit einer solchen Frage schon lange gerechnet hatte, holte tief Atem, dann erzählte sie von ihrer kurzen Verlobung mit ihrem Vetter, Sulaymans Warnung und ihrer darauf folgenden Flucht. Abi Gul lauschte mit einer Mischung aus Belustigung und Ehrfurcht, und als Khalidah zum Ende kam, stellte sie nur sachlich fest: »Da zeigt sich dein Dschinn-Blut.« Dann stellte sie den kohl-Tiegel beiseite und holte ein anderes Schälchen und einen zweiten Pinsel, der nur aus einigen wenigen Haaren zu bestehen schien.
»Was ist das?« Khalidah musterte den Inhalt der Schale argwöhnisch.
»Farbe. Sie wird aus … ach, mir fällt das arabische Wort nicht ein … aus tut gemacht, wie wir sagen.«
»Aus Maulbeeren«, entfuhr es Khalidah.
Abi Gul nickte überrascht. »Ja, aus Maulbeeren … aber woher wusstest du das?«
»Ich habe darüber nachgedacht, seit Sulayman mir erzählt hat, dass ich in dem Traum in meiner ersten Nacht hier Paschtu gesprochen habe - ich glaube, meine Mutter muss es vor langer, langer Zeit mit mir gesprochen haben und ich vielleicht auch mit ihr, oder ich habe es zumindest verstanden. Und seit ich hier bin, kommen einige Worte nach und nach zurück.«
Abi Gul nickte. »Das ergibt einen Sinn. Vielleicht lernst du es ja schnell wieder. Wie dem auch sei … diese Tinte wird aus tut hergestellt, und wir malen uns damit die harquus auf unsere Gesichter.« Sie begann, ein Muster auf Khalidahs Stirn zu zeichnen. »Wenn wir aus unserer ersten Schlacht zurückkehren«, fuhr sie fort, »erhalten wir die eigentlichen harquus, die Zeichen der Dschinn. Damit werden wir vollwertige Mitglieder des Stammes.«
»Bei den Männern habe ich solche Zeichen aber nicht gesehen.«
»Sie tragen sie auf dem Rücken.«
»Warum?«
»Warum nicht?«
Darauf fiel Khalidah keine Antwort ein. Sie saß schweigend da und hing ihren Gedanken nach, bis Abi Gul mit ihrem Werk fertig war und ihr einen Spiegel hinhielt. Sie hatte Khalidahs Stirn mit einem Dreieck aus filigranen Ranken und ihre Wangen mit kleinen Mandalas verziert. Zu ihrer beiderseitigen Überraschung beugte sich Khalidah vor und umarmte sie.
»Ich bin froh, bei euch zu sein«, flüsterte sie.
»Und wir sind froh, dich hier zu haben«, erwiderte Abi Gul weich.
5
Die Sonne war schon hinter den Bergen versunken, als Khalidah und Abi Gul den Schlafsaal verließen. Der Himmel hatte sich blaugrün verfärbt, die ersten Sterne und die Sichel des abnehmenden Mondes waren bereits zu sehen. Am Flussufer war ein großes Feuer entzündet worden, um das sich eine Reihe von Menschen scharte. Viele von ihnen tanzten um die Flammen herum, und als sie näher kamen, drangen Instrumentenklänge an Khalidahs Ohr - Trommeln, eine helle, klare Flöte und ein Saiteninstrument, dessen einer oud ähnliche, aber lautere und kräftigere Töne von einem unterschwelligen Summen begleitet wurden. Als die beiden Mädchen sich unter die Menge mischten, stimmte der Spieler der seltsamen oud plötzlich eine sehnsüchtige
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