Wuestentochter
Frau sich umdrehte, sah sie tiefgoldene Augen, dunkle Muster auf Stirn und Wangen und ein tränenfeuchtes Lächeln, und Khalidah begriff sofort, warum ihr alle Herzen zugeflogen waren, obwohl man sie nicht als Schönheit bezeichnen konnte.
»Ich dachte, ich hätte dich vergessen«, vertraute Khalidah ihr ihr dunkelstes Geheimnis an. »Ich konnte mich nicht an dein Gesicht erinnern, ich habe noch nicht einmal mehr von dir geträumt …« Aber das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn erst kürzlich war just dieses Gesicht zu leisen Musikklängen aus einem Wandbehang aufgetaucht. Weitere Bilder zogen vor ihrem geistigen Auge vorbei: Muster auf ihren Händen, Blut auf Pergament, das Knacken brechender Knochen, ein Lächeln im Sonnenschein. »Warst du dort? Bist du jetzt hier?«
Kleines Mädchen … Licht meiner Seele …
Die Worte streiften Khalidahs Bewusstsein so zart wie der Geisternebel. »Ummah, bitte«, flüsterte sie. Wieder lächelte Brekhna, aber ihr Bild begann zu verblassen, und Khalidah überkam jenes Gefühl von Dualität, das sich am Ende eines lebhaften Traumes einstellt, wenn die Traum- und die wirkliche Welt einen Moment lang parallel verlaufen. »Warte!«, rief sie. »Sag mir, wo ich dich finden kann!«
Wieder erschien das traurige Lächeln, und Worte strichen wie Phantomfinger über sie hinweg. »Erst musst du Qaffinden...«
Qaf. Fragmente der Lehren des Imans gingen ihr durch den Kopf: das Ende der Welt, das Land der Dschinn, Smaragdberge, Wesen aus rauchlosem Feuer … und während sie sich all dies ins Gedächtnis zurückrief, verschwand ihre Mutter wie Sand, der durch gespreizte Finger rinnt.
Im nächsten Moment löste sich der Nebel auf. Khalidah stand jetzt auf einem Hügel über einem von Bergen gesäumten Tal, von denen die näher gelegenen mit Gras und Bäumen bewachsen waren und die weiter entfernten blauviolett schimmerten und Kappen aus Schnee trugen. In der Talsohle floss ein klarer Fluss über goldene Steine, an dessen Ufer eine Pferdeherde graste: wunderschöne Pferde, vielleicht noch edler als die, die die Stämme züchteten. Auf einem Hügel zu ihrer Rechten erstreckten sich Gebäudereihen, aus Holz und Stein errichtet und so angelegt, dass sie übereinander gelegene Terrassen bildeten. Am anderen Ende des Tals lag ein größeres Gebäude, von dem etwas aufragte, was wie ein Minarett aussah. Eine Galerie verlief entlang des oberen Stockwerks, in deren Schatten eine gleichfalls weiß gekleidete Gestalt saß. Sie blickte auf, schien Khalidah zu bemerken und eine Geste in ihre Richtung zu vollführen: Dann schloss sich der Nebel wieder, und der Traum endete.
Zuerst wusste Khalidah nicht, wo sie war. Über ihr schimmerte ein gezackter Streifen blaugrünen Zwielichts, hinter sich spürte sie die Wärme eines schlafenden Pferdes. Sie setzte sich auf. Zahirah schnaubte leise und knabberte an den Spitzen ihrer Haare, und da kam alles zurück. Sie spähte zu Sulayman hinüber, der noch immer fest schlief. Asifa stand in der Nähe des Ganges, den Kopf in Richtung Freiheit gestreckt.
»Also gut, gehen wir.« Khalidah griff nach ihren Satteltaschen und führte die Pferde ins Freie, um sie zu tränken.
Während die Tiere gierig tranken, wusch sie sich das Gesicht und trocknete es an der Innenseite ihres Kleides ab, die noch immer relativ sauber war. Dann kniete sie nieder und sprach ihr Morgengebet, wobei sie sich fragte, ob Allah einer Frau, die so viel Schlechtes getan hatte, überhaupt noch zuhörte. Sie betrachtete im letzten Zwielicht ihr verzerrtes Spiegelbild und versuchte zu ergründen, ob ihre Taten sie verändert hatten, forschte aber dann stattdessen in ihren Zügen nach Ähnlichkeiten mit ihrer Mutter. Abgesehen von den goldenen Augen konnte sie keine feststellen. Ihre Haut war dunkler als die von Brekhna, ihr Haar pechschwarz, ihr Gesicht weicher und herzförmig, mit den offenen Zügen ihres Vaters.
Plötzlich erschien ein anderes Gesicht neben dem ihren. Sie schrak zusammen und fuhr erbost zu Sulayman herum. »Lass das!«
Er lächelte freundlich, kniete sich neben sie und schöpfte Wasser in die hohle Hand, ehe er antwortete: »Es tut mir leid, wenn ich dich schon wieder erschreckt habe.«
»Nein, das tut es nicht«, widersprach Khalidah. »Du hast es ja schon einmal getan.«
»Aber nicht mit Absicht. Es ist nur die Macht der Gewohnheit.«
»Was für eine Gewohnheit erfordert es denn, sich so lautlos anzuschleichen?«
Er betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser,
Weitere Kostenlose Bücher