Wuestentochter
statt sie anzusehen. »Das ist eine Geschichte für sich. Aber wir müssen jetzt weiter. Hier, zieh das an.«
Er legte ein Stoff bündel neben sie. Sie hob es auf und schüttelte es aus. Es war ein kurzes Männergewand nebst weiten Hosen, wie sie auch Sulayman trug. Eine rote Schärpe und eine Keffieh flatterten zu Boden. Erst jetzt bemerkte sie, dass er seine bestickte Kappe gegen eine ähnliche Kopfbedeckung ausgetauscht hatte, nur war seine blau.
»Wo gehen wir denn hin, dass ich mich wie ein Mann kleiden muss?«, fragte Khalidah argwöhnisch.
»Es geht nicht um das Reiseziel, sondern um die Reise selbst. Wir reiten so lange durch die Wüste, wie es geht, aber früher oder später werden wir anderen Menschen begegnen. Und dann ist es besser, wenn sie dich für einen Jungen halten, glaub mir.«
Er zog sich taktvoll stromabwärts zu den Pferden zurück, während sie ihr Gewand abstreifte und in die Männerkleidung schlüpfte. Sie flocht ihr Haar und schob es in das Gewand, dann band sie sich die Keffieh um. Mit ihrem Kleid und ihrem Hemd unter dem Arm ging sie zu Sulayman hinunter, der Zahirah bereits aufgezäumt hatte und sich nun mit Asifa beschäftigte. Khalidah fand, dass die graue Stute längst nicht mehr so nervös war wie vorige Nacht. Zwar schnaubte sie und scheute zurück, als Sulayman ihr ihr Halfter anlegte, aber er sprach die ganze Zeit beruhigend auf sie ein, bis sie ihren Widerstand aufgab.
»Du kannst gut mit Pferden umgehen«, stellte Khalidah fest.
»Und du gibst einen sehr überzeugenden Jungen ab.« Als sie ihn daraufhin finster anfunkelte, fügte er rasch hinzu: »Wenn auch einen ungewöhnlich hübschen. Ich kann nur hoffen, dass wir nicht auf eine Horde einsamer Soldaten stoßen. Du gibst besser vor, dich in der Ausbildung zum Derwisch zu befinden.«
Ihre Miene verfinsterte sich noch mehr. »Wird das einen Vergewaltiger von seinem Vorhaben abhalten?«
»Nein. Aber es wird ihn lange genug ablenken, dass du dein Messer zücken kannst.« Sulayman lachte, als er ihr Gesicht sah. »Keine Angst, Sayyida. Ich lasse nicht zu, dass dich jemand anrührt.«
Sie ließ sich von ihm in den Sattel helfen, konnte aber ein befriedigtes Lächeln nicht unterdrücken, als sie Zahirah die Fersen in die Flanken stieß, woraufhin die goldene Stute davonschoss und die graue weit hinter sich ließ.
6
Eine fahle Sonne ging über Wadi Tawil auf und brachte Wind mit sich; einen heißen, sandigen Schirokko aus der Sahara. Er rüttelte an den Zelten und kündigte eine Trockenzeit an. Zu den körperlichen Verletzungen, die ich erlitten habe, kommen nun auch noch Beleidigungen, dachte Bilal, während er zum Weideland hinüberblickte, wo die zarten jungen Grashalme bereits zu verdorren begannen. Er kam sich vor, als sei er einer von ihnen. In seinem Kopf hämmerte es, und er vermochte seine Augen immer noch nicht auf einen bestimmten Punkt zu richten, obgleich er nicht sagen konnte, ob dies ein Effekt der Droge oder der Faust seines Angreifers war. Nun, das zählte jetzt auch nicht mehr.
»Gut, Bilal«, seufzte Abd al-Aziz. »Erzähl uns das Ganze noch einmal.«
Bilal betrachtete die im majlis versammelte ernste Gruppe, die sich stark von der ausgelassenen Horde der vergangenen Nacht unterschied: Abd al-Aziz’ Gesicht wirkte grau und verhärmt; das seines Bruders verkniffen; hinter Numairs steinerner Miene verbarg sich verletzter Stolz; die Augen seiner Mutter Zeyneb blickten über dem Halbschleier seltsam heiter. In der Mitte lag wie eine stumme Drohung der blutbefleckte Brief.
»Ich habe alles gesagt, was ich weiß«, erwiderte der Junge.
»Du hast lediglich Mutmaßungen angestellt«, berichtigte ihn der Scheich milde. »Ich versuche, die Fakten zusammenzutragen.«
»Die Fakten!«, fuhr Bilal auf, dessen mühsam unterdrückter Zorn wieder aufflammte. »Fakt ist, dass Khalidah mit diesem Halunken davongelaufen ist!«
»Bilal!«, mahnte seine Mutter scharf.
Bilal schloss einen Moment lang die Augen, dabei wünschte er, die Bilder der vergangenen Nacht ebenso einfach ausblenden zu können. Was auch immer der Brief mit dem Templersiegel zu bedeuten haben mochte, er änderte nichts an der Tatsache, dass Khalidah Familie und Ehre im Stich gelassen hatte, um mit einem Mann durchzubrennen, der nichts als ein besserer Diener war. Nicht besser als du selbst, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. Er hatte versucht, sich einzureden, dass das nichts änderte - dass Khalidah nie die Seine geworden wäre; dass
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