Wuestentochter
hören.«
»Wie bitte?«
»Du kennst meine Lebensgeschichte. Jetzt erzähl du mir die deine.«
»Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte.«
»Am Anfang, würde ich vorschlagen. Wo wurdest du geboren?«
Khalidah zögerte einen Moment. »In Wadi Tawil. Der Stamm war gerade dort eingetroffen, um das Vieh auf die Sommerweiden zu treiben, als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten.«
»Erinnerst du dich noch an sie?«
»Nur ganz schwach. Sie sta … ich meine, sie verließ uns, als ich drei Jahre alt war.«
»Und dein Vater?«
Wieder zögerte sie unschlüssig. »Ich glaube, mein Vater ist über ihren Verlust nie hinweggekommen. Er hat sie aus Liebe geheiratet … und sie ihn aus demselben Grund, schätze ich. Viel mehr hatten sie sonst nämlich nicht gemeinsam.«
»Sie hatten dich.«
Khalidah lächelte wehmütig. »O ja. Ein einziges Kind, und noch dazu eine Tochter.«
»Und trotzdem muss deinem Vater viel an dir gelegen haben, sonst hätte er dich nicht wie einen Sohn aufgezogen.«
»In vieler Hinsicht, ja. Aber manchmal zweifle ich an der Weisheit dieser Entscheidung.«
»Sie hat dir gerade das Leben gerettet.«
»Stimmt. Vielleicht hat er irgendein Versprechen gehalten, das er meiner Mutter gegeben hat«, meinte Khalidah nachdenklich. »Oder er war einfach nur verzweifelt, weil er keinen Sohn hatte.«
»Spielt das jetzt noch eine Rolle?«
Diesmal gab Khalidah keine Antwort.
»Also bist du in der Kunst des Schwertkampfes sowie in Poesie und Musik unterwiesen worden. Was hast du sonst noch gelernt?«
»Ja, was noch?« Khalidah schüttelte den Kopf. »Ich habe gelernt, dass ein Stamm seinem Anführer vergibt, eine Fremde geheiratet zu haben, aber seinem Kind nie verzeiht, dass es ihr Blut in sich trägt. Ich habe gelernt, dass Männer einem Mädchen nicht trauen, wenn es zu gebildet ist oder wenn seine Fähigkeiten den ihren überlegen sind. Ich habe gelernt, dass letztendlich die größte Sorge eines Vaters bezüglich seiner Tochter darin besteht, sie loszuwerden … dass nur Tiere dir echte Liebe entgegenbringen … dass wahre Freiheit einzig und allein auf dem Rücken eines Pferdes existiert …«
Sulayman wartete darauf, dass sie weitersprach. Als sie beharrlich schwieg, sagte er trocken: »Soll ich dich jetzt bemitleiden?«
»Das bleibt dir überlassen.«
Sulayman dachte eine Weile nach. Dann fragte er: »Und Zeyneb? Wie viel bedeutet sie dir?«
Khalidah seufzte. »Als Kind hat sie mir alles bedeutet. Jetzt ist sie der einzige Mensch, um dessentwillen ich Gewissensbisse verspüre. Sie war im Grunde genommen meine wahre Mutter.«
»Wo kommt sie her?«
»Woher weißt du, dass sie keine Hassani ist?«
Sulayman zuckte die Achseln. »Nur so ein Gefühl? Nun?«
»Ich weiß nicht, woher sie zu uns kam, und auch nicht, wann - nur dass es vor dem … Verschwinden meiner Mutter gewesen sein muss.«
»Hast du sie denn nie gefragt?«
»Doch, natürlich. Aber sie hat mich immer schroff abgefertigt. Sie sprach nie über ihre Vergangenheit oder über Bilals Vater oder über den Grund, weshalb sie nicht mehr mit ihm zusammen war. Aber manchmal weinte sie nachts, wenn sie dachte, ich könnte es nicht hören.«
»Du liebst sie«, stellte Sulayman sachlich fest. »Und sie liebt dich.«
»Ja«, erwiderte Khalidah weich, und dann noch einmal: »Ja.«
»Was ist mit ihrem Sohn?«
»Bilal? Wir sind zusammen aufgewachsen, wie Zwillinge. Er war mein bester Freund - mein einziger Freund, um genau zu sein. Die Beduinen stehen Menschen mit fremdländischem Blut in den Adern äußerst misstrauisch gegenüber.«
»Aber?«
Khalidah seufzte. »Bilal ist schwierig. Abwechselnd überschäumend fröhlich und dann wieder zutiefst melancholisch, und seine Stimmung kann ohne ersichtlichen Grund von einem Moment zum anderen umschlagen. Man muss immer auf alles gefasst sein. Außerdem ist er mit seinem Leben unzufrieden. Er brennt vor Ehrgeiz, sieht aber keine Möglichkeiten, seine hochfliegenden Pläne zu verwirklichen. Und seit einiger Zeit …«
»Ist eure Beziehung komplizierter geworden«, beendete Sulayman den Satz für sie. »Seine Liebe zu dir geht über deine zu ihm weit hinaus.«
Khalidah nickte. Nach einem Moment fragte sie: »Warum interessierst du dich so für Zeyneb und Bilal?«
Aber er schüttelte nur den Kopf und verfiel in Schweigen, während die am Himmel aufsteigende Sonne sie zu blenden begann, der Sand vor ihren Augen verschwamm und ihre Schatten in Richtung ihrer Heimat zuckten, während
Weitere Kostenlose Bücher