Wuestentochter
gänzlich ohne Wärme fragte: »Hast du dein Geheimnis jetzt gelüftet, weil du glaubst, dass ich dem Tode nah bin?«
»Nein, sondern weil du sterblich bist«, erwiderte Ghassan, was Khalidah wenig tröstlich fand.
»Das ist keine Antwort!«, fuhr Sulayman auf.
Ghassan sah ihn ruhig an. »Wir müssen alle irgendwann sterben, Sulayman. Ich gebe zu, dass ich, was Haya betrifft, zu lange geschwiegen habe. Bitte lass es uns dabei belassen.«
Sulayman wandte sich an Khalidah. »Und du? Glaubst du, dass ich der Sohn dieser Jüdin bin?«
Khalidah sog die feuchte Luft tief ein, ehe sie antwortete: »Ich glaube, dass es nicht darauf ankommt, was ich glaube. Du musst deine Vergangenheit aus den Puzzleteilchen zusammensetzen, die dir zur Verfügung stehen - genau wie ich.«
Sulayman musterte sie einen Moment lang mit undurchdringlicher Miene, dann ging er ins Haus zurück.
19
»Scheinheiliger Frömmler«, knurrte Numair und zog sich sein Kissen über den Kopf, als Trompetenfanfaren und Trommelklänge, gefolgt von dem durchdringenden Ruf des Muezzins, ihn aus seinem trunkenen Schlaf rissen. Bilal unternahm keinen Versuch, ihn zum Aufstehen zu bewegen. Die Erfahrungen der letzten Tage hatten ihn gelehrt, dass seine Bemühungen ohnehin nichts fruchteten. Außerdem verlief sein Leben wesentlich angenehmer, wenn er seinen ›Vetter‹ seinen Rausch ausschlafen ließ.
Er kleidete sich rasch an und verließ das Zelt. Die Welt draußen war in Bewegung geraten: Dunkle Gestalten mit zusammengerollten Gebetsteppichen auf den Schultern schlurften wie eine Herde unförmiger Schafe auf das Übungsfeld der Infanteristen zu. Bilal beobachtete sie einen Moment lang. Der Himmel über ihm war noch immer tiefschwarz und mit Sternen übersät, doch am Horizont zeigte sich bereits ein schmaler heller Streifen, als bilde die Nacht einen Deckel über der Erde, den der neue Tag aufzustoßen versuchte. Flüchtig dachte er an die offene Wüste, an andere Morgendämmerungen und daran, wie er und Khalidah sich aus dem schlafenden Lager geschlichen hatten, um auf dem Rücken der Pferde ihres Vaters der aufgehenden Sonne entgegenzugaloppieren. Sie waren meistens dafür bestraft worden, aber die Aussicht auf eine Tracht Prügel hatte sie nie abschrecken können. Die Ekstase jener Momente, wo sich alle vier Hufe des Tieres vom Boden lösten und sie zu fliegen meinten, war jeden Schmerz wert.
Bilal zwinkerte. Eine einzelne Gestalt hatte sich aus der Menge gelöst und kam auf ihn zu. Ein Lächeln materialisierte sich in den wabernden Schatten, eine schlanke Hand legte sich auf seinen Arm. »As-salaamu’aleikum«, begrüßte Salim ihn, doch Bilal erwiderte den Gruß nicht, er brachte keinen Ton heraus. Er war zu sehr damit beschäftigt, einen auf seine Erinnerungen folgenden Gedanken abzuschütteln: dass es vielleicht ein Gefühl gab, das dem des Fliegens zu Pferde gleichkam und dass dieses Gefühl in direktem Zusammenhang zu den fünf auf seinem Arm ruhenden Fingern stand. Falls dies zutraf, dann gab es für ihn keinen Frieden in diesem Leben mehr, nur noch Verzweiflung …
Hör auf damit, befahl er sich streng, dann rang er sich ein Lächeln ab. »Wa’aleikum as-salaam wa rahmatu Allah«, stieß er hervor. Salim hakte sich bei ihm unter, und gemeinsam gingen sie zum Morgengebet und verneigten sich gen Mekka.
Nachdem sie ihre Gebete gesprochen und die Teppiche wieder zusammengerollt hatten, kauerte sich Salim auf die Fersen. »Ich kenne ein Geheimnis.«
Verunsichert fragte Bilal: »Was denn für eines?«
»Wenn ich es dir verraten würde, wäre es ja kein Geheimnis mehr.« Salim lachte, als Bilal die Stirn runzelte. »Aber ich werde es dir zeigen«, lenkte er ein, dann brach er ab und musterte Bilal nachdenklich. Die am Himmel aufsteigende Sonne verlieh seinen Augen die Farbe starken Tees. »Mein Vater rüstet sich zum Aufbruch«, sagte er.
»Ist das das Geheimnis?«
Salim grinste. »Wohl kaum. Er hat meinem Bruder Al-Afdhal den Oberbefehl über die Armee übertragen, und Al-Afdhal wird unverzüglich dafür Sorge tragen, dass das ganze Lager davon erfährt. Ich kann heute nicht mit dir exerzieren«, fügte er abrupt hinzu. »Ich muss bei meinem Vater bleiben und zusehen, wie ein Sultan Kriegsvorbereitungen trifft. Wir treffen uns nach dem Mittagsmahl.«
»Ich weiß nicht, ob mein Vetter nicht …«
»Ich schicke eine Hure mit einem Krug Wein zu ihm«, unterbrach Salim ihn mit belustigt funkelnden Augen. »Dein Vetter wird überhaupt nicht
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