Wüthrich, G: Dölf Ogi: So wa(h)r es!
Pontresina eine Demonstration dessen, was es heisst, Autorität zu haben und diszipliniert zu trainieren. «Heute würde man mich wahrscheinlich wegen Verletzung der Menschenrechte anprangern», meint er mehr als 40 Jahre später mit einem verhaltenen Lächeln.
Alles war anders als hier in Europa oder drüben in Amerika. Der Schnee war auch weiss, aber anders …
Lassen wir Bernhard Russi zu Wort kommen, der seine Eindrücke bezüglich der Menschenrechte auf dem Bahnhofsplatz von Pontresina wie folgt schildert: «Er hat von uns unmögliche Dinge verlangt, die gar nichts mit Skifahren zu tun haben. So mussten wir bei minus 15 Grad und 30 Zentimeter Neuschnee vor dem Bahnhof einen Stosskarette-Staffellauf machen.» Liegestützen im Schnee kommen noch dazu … Ogi geht an die Schmerzgrenze. Wer keine Handschuhe trägt, hat das Nachsehen.
Zurück im Hotel, sei Bernhard Russi zu ihm gekommen und habe sich bitter darüber beklagt, wie er mit ihnen umgehe.
Antwort des Chefs: «Wenn es dir nicht passt, kannst du sofort nach Hause ‹verreise›. Eine solche Einstellung akzeptiere ich nicht. Wenn ihr Spitzensportler, Weltmeister, Olympiasieger werden wollt, dann braucht es eine andere Einstellung. Abfahre!»
Nach gut zehn Minuten kehrt Russi kleinlaut zurück: Er habe eingesehen, dass er seine Einstellung ändern müsse.
Drei Jahre später wird Bernhard Russi in Gröden überraschend Abfahrts-Weltmeister und am 7. Februar 1972 holt er bei den Olympischen Winterspielen in Sapporo die Goldmedaille. Zweiter und damit Silbermedaillengewinner wird sein Landsmann Roland Collombin …
Ogi hat immer dafür gesorgt, dass in den Trainingslagern ein grosses Plakat an der Wand aufgehängt wird: «Unser Ziel Sapporo!»
Am Ziel «chalberet dr Schiitstock». Goldene Tage in Sapporo. «Ogis Leute siegen heute»: Viermal Gold, dreimal Silber, dreimal Bronze. Die Schweiz wird hinter der Sowjetunion und der ehemaligen DDR drittbeste Nation überhaupt. Mit Gold bei der Abfahrt und Gold im Riesenslalom ist Marie-Theres Nadig überragende Schweizer Athletin.
Dieser grosse Erfolg hat natürlich nicht nur mit den Ereignissen auf dem Bahnhofsplatz in Pontresina zu tun. Da steckt viel mehr dahinter. Adolf Ogi steigt 1969 zum Technischen Direktor des Skiverbandes auf und nimmt die Vorbereitung für Sapporo generalstabsmässig in die Hand. Von 1975 bis 1981 steht er dem Skiverband als Gesamt-Direktor vor.
25 Jahre nach Sapporo, zum Silber-Jubiläum, legt Dölf Ogi erstmals vor den Mitgliedern seiner Stiftung Sapporo, die im Hintergrund diskret materiell in Not geratenen Skisportlern hilft, ausführlich und im Detail offen, welche Vorarbeit für die grossen Erfolge geleistet worden ist. 1997 sagt er in Oerlikon gemäss schriftlichem Redetext:
«Sapporo 71 brachte den nummerierten und nur gegen Quittung und Unterschrift abgegebenen Geheimbericht. Den Bericht, der mir aus meinem Mini-Cooper im März 1971 in Sestriere gestohlen wurde. Wegen der Kandersteger Geheimsprache vom Dieb als uninteressant betrachtet wurde und deshalb in der Kehrichtablage unterhalb des WM-Ortes landete.
Dieser Geheimbericht ist der Schlüssel des Erfolges. Alles war anders als hier in Europa oder drüben in Amerika.
Der Schnee war auch weiss, aber anders.
Das Leben war lebenswert, aber ungewöhnlich, die Kultur fremd, das Essen unüblich, die Sprache unverständlich, die Pisten unbekannt. Deshalb brauchten wir Hunderte von Wachsversuchen und Analysen des japanischen Schnees sogar in der Schweiz.
Grosser Jubel in Sapporo: Russi feiert mit Roland Collombin (l.), der hinter ihm Silber in der Abfahrt holt. 1972
Überraschungsgast Ogi bei der Hochzeit von Erika Hess und ihrem ehemaligen Trainer Jacques Reymond in Buochs. 1988
Deshalb wurde im Sommer 1971 ein Skilift am Sustenpass gebaut. Wir suchten das gleiche Gelände wie in Sapporo.
Der medizinische Rapport von Dr. Peter Imhof liest sich wie eine lange Verbotsliste. Vom Essen über die Salbe, die sich die Athleten in die Nase drücken mussten, als sie am 25. Januar ins Flugzeug Zürich – Moskau – Sapporo einstiegen, bis zu Verhaltensmassnahmen für alle Fälle war alles fixiert, sogar befohlen.»
Ja, dieser Geheimbericht. Dieser Schlüssel zum Erfolg, den er so minutiös hat ausarbeiten lassen. Das in Sestriere gestohlene, persönliche Exemplar hat er wohlbehalten wieder zurückbekommen. Und noch etwas muss man wissen: Für das Jahr 1972 wird Swiss Olympic und der Swissair die direkte Flugroute über Moskau
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