Wunder wie diese
halb neun. Ich schiebe den Stuhl zurück und begebe mich auf die Couch. In unserem kleinen Haus ist das Esszimmer zugleich das Wohnzimmer, das Fernsehzimmer und natürlich auch der Rauchsalon. Die Ruhe-Zeit gibt es schon lange nicht mehr und ich mache es mir vor Greys Anatomy gemütlich.
»Amelia«, sagt da mein Vater, »wollen wir stattdessen nicht lieber Musik hören?«
Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu. »Wenn ich es aufnehmen und später ansehen könnte, nachdem die Raucher zu Bett gegangen sind, würde ich das vielleicht tun. Da wir aber kein entsprechendes Gerät besitzen, muss ich es mir wohl live ansehen.«
Unser Video-/DVD-Player hat schon vor über einem Jahr den Geist aufgegeben und seitdem haben wir keinen neuen gekauft. Dazu fällt ihm nichts mehr ein, aber er ermahnt mich, den Ton leiser zu stellen. Beim Vorspann kehre ich den beiden den Rücken zu. Ich höre das verhasste Tock-tock, als er eine Zigarette aus der Schachtel klopft, sie Mum reicht und dann eine weitere für sich herausklopft. Ich rüste mich für das Klicken und Aufflammen des Feuerzeugs. Als mir der ätzende Rauch in die Nase steigt, ziehe ich mir den T-Shirt-Kragen über das Gesicht. Es nützt nichts. Ich konzentriere mich auf die Dialoge im Fernseher und versuche, Mums und Dads Stimmen auszublenden.
In der ersten Werbepause drehe ich mich um und werfe Dad einen meiner besten bösen Blicke zu. Starren ist das Einzige, was ich mich als Protest gegen das Rauchen noch traue. Wie ich Chris schon in dem Brief geschrieben habe, kann Dads Zorn beängstigend sein, und wenn ich über das Rauchen meckere, kann ich mir sicher sein, dass ich ihn auf mich ziehe.
Es war vor sieben Jahren, ich war acht, als sein unbändiger Zorn das erste Mal über mich hereinbrach. Ich hatte überall im Haus Rauchverbotsschilder aufgehängt, wie ich Chris schon erzählt habe. Dann stibitzte ich alle Zigaretten im Haus (einschließlich des Geheimvorrats von zwei Stangen zollfreier Winstons) und entsorgte sie in einem Container hinterm Haus.
Als es auf 18 Uhr zuging, war Dad außer sich vor Wut. Er tobte wegen des Nikotinentzugs und war absolut nicht in der Stimmung, seine protestierende achtjährige Tochter irgendwie niedlich zu finden. Wenn er schreit, ist es nicht die Lautstärke, die mich in Angst und Schrecken versetzt. Er schafft es irgendwie, einen Ton zu treffen, der jeden Widerstand im Keim erstickt, der den Versuch, sich zu wehren, von vornherein ausschaltet. Er ist das verbale Gegenstück zu diesen Dinosauriern aus Jurassic Park, die ihre Beute mit lähmendem Glibber bespucken. Wenn man erst mal lahmgelegt ist, weiß man genau, dass man ihnen ausgeliefert ist – und das ist ätzend. Merkwürdig ist auch, worüber er sich manchmal aufregt und ein anderes Mal nicht.
Als Lizey das letzte Mal in den Semesterferien hier war, lieh sie sich das Auto unserer Eltern und hat beim rückwärts Ausparken einen Pfeiler gerammt. Es hat mächtig gekracht. Sie ist direkt nach Hause gefahren und hat Dad stockend ihr Herz ausgeschüttet. Sie machte sich fast in die Hose vor Angst davor, wie er reagieren würde. Er untersuchte ganz ruhig die Kratzer im Lack, das eingedrückte Rücklicht und die riesige Delle am Kofferraum.
Lizey brach in Tränen aus und betete Entschuldigungen herunter.
»Aber mein Liebling«, sagte er und tätschelte ihr die Schulter. »So was kann mal passieren. In Zukunft wirst du wohl besser aufpassen müssen.«
Und das war’s.
Meinen finsteren Blick während der Werbepause in Greys Anatomy erwidern weder Mum noch Dad. Mein Vater pustet den Rauch aus, während er von dem Bühnenautor berichtet, der das Stück, das er gerade am Brooke Street Theatre inszeniert, geschrieben hat.
»Er kommt zu fast allen Proben und beobachtet mich mit Argusaugen. Er unterbricht die Schauspieler, wenn sie das falsche Wort betonen oder es nicht so betonen, wie er sich das vorstellt. Er scheint nicht zu kapieren, dass, nachdem er das Stück geschrieben hat, seine Arbeit beendet ist und meine beginnt.«
»Ojemine«, murmelt Mum und nimmt verständnisvoll nickend einen Zug von ihrer Zigarette.
»Im dritten Akt versuche ich, das Tempo rasant zu steigern, was zum größten Teil durch den Dialog passiert. Wenn ich mich an jedes Komma und Apostroph halten würde, das er eingefügt hat, beeinträchtigt es das Tempo. Also sage ich den Schauspielern, dass die Energie untereinander und die Dynamik wichtiger sind, als sich exakt an Satzzeichen und Klammern zu halten,
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