Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wunder wie diese

Wunder wie diese

Titel: Wunder wie diese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Buzo
Vom Netzwerk:
meinem Dad.« Na klar, woher auch sonst. Schön für dich, Ro. Bin ich nicht widerwärtig? Mehr solcher Beispiele gebe ich dir nicht, was würdest du sonst von mir denken? Das Fazit ist, ich kann einfach nie zufrieden sein mit dem, was ich habe. Ich vergleiche mich ständig mit den anderen.
    6) Ich bin jung; ich bin gesund (oder so was in der Art); ich hab ein Dach überm Kopf, Essen auf dem Tisch, es ist warm; ich habe Freunde; ich darf studieren; ich wohne in einer sicheren Stadt mit sauberen Stränden – und mir geht’s die meiste Zeit ziemlich miserabel. Einen Großteil meiner Zeit verbringe ich damit, mir die Schläfen zu massieren und mich über die verschiedensten Missstände aufzuregen. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich hör hier mal auf, damit ich beobachten kann, wie der letzte Widerschein des rosa-orangen Sonnenlichts, das den Raum in dämmriges Halbdunkel hüllt, an der Wand erlöscht.
    Chris

Amelia: Lug und Trug
    Der Beethoven-Tanz
    Als Lizey und ich noch klein waren, vielleicht neun und fünf, hat Dad nach dem Abendessen eine Ruhe-Zeit eingeführt. Wenn wir mit dem Essen fertig waren und Mum (immer Mum) den Tisch abgeräumt hatte, sollten ich und Lizey drüben bei der Couch auf der anderen Seite des Raums »in Stille lesen, spielen und verdauen«. Fernsehen war »STRENG VERBOTEN«. Wir konnten tun und lassen, was wir wollten, solange wir dabei still waren und uns in die Wohnzimmerecke zurückzogen. Mum und Dad blieben am Tisch sitzen und Dad schenkte Wein nach, zündete Mum und sich selbst zwei Zigaretten an und legte klassische Musik auf. Er und Mum saßen schweigend da und lasen, während Lizey und ich die Uhrzeiger beobachteten. Die Musik, die Dad meist – und manchmal auch heute noch – aussuchte, war laut und aufbrausend, durchdringend und düster. Er legte immer wieder eine bestimmte Auswahl von Beethoven, Liszt und Chopin auf. Hin und wieder war etwas von Sibelius dabei, was weniger nervtötend war und meist davon zeugte, dass er gute Laune hatte. Mum gefielen Klavierstücke besser, sie zog sie Dads donnernder Orchesterauswahl vor. Sie mochte Granados, Rodrigo, Mompou. Aber in unserer Ruhe-Zeit hörten wir sie fast nie. Sie legte sie zum Kochen und Saubermachen auf, wenn sie in der Küche war. Natürlich allein.
    Lizey war die frechere von uns beiden, sie hatte eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne und war eine wilde Tänzerin. Ich war »leicht beeinflussbar«. Diese beiden Umstände zusammen führten zu einem unserer Lieblingsspiele in der Ruhe-Zeit, dem Beethoven-Tanz. Der Beethoven-Tanz entstand in der Zeit, als gerade Beethovens Neunte angesagt war, auch wenn sich das Spiel nicht nur auf Beethoven beschränkte. Das wilde Tempo, die Ernsthaftigkeit und Intensität des zweiten Satzes und Dads innige Freude daran forderten einen gewissen Spott geradezu heraus.
    Lizey war die Choreografin des Beethoven-Tanzes und beschränkte sich dabei ausschließlich auf Bewegung und Mimik, da jegliches Geräusch untersagt war. Wir marschierten mit konzentriertem Gesichtsausdruck auf völlig übertriebene Art im Takt der Musik durchs Zimmer, änderten mit einem jeden Paukenschlag die Richtung. Wenn die Musik an Tempo und Intensität zulegte, durchbrachen wir den Marschkreis und galoppierten auf unseren Fantasiepferden umher. Wir ritten in einer Acht durchs Zimmer, selbstverständlich immer zum Takt der Musik, und trieben die Pferde gelegentlich mit imaginären Gerten an.
    Lizey erfand noch ein paar Extraschritte, die wir abwechselnd zum Takt der Paukenschläge machten. Jedes Mal wenn der Schlussakkord erklang, ließen wir uns auf den Boden fallen und lachten uns kringelig, aber strikt nach Vorgaben der RZ – ohne einen Ton von uns zu geben. Zu mindestens achtzig Prozent hatte der Beethoven-Tanz das Ziel, bei Dad eine Reaktion hervorzurufen. Er tat, als ob er nichts bemerkte, voll konzentriert in seine Zeitung/das Drehbuch/den New Yorker vertieft sei, mit der Brille vorn auf der Nasenspitze. Aber wenn das Finale nahte, umspielte manchmal das leiseste Lächeln seine Mundwinkel, und hin und wieder konnte er sich ein leichtes Kopfschütteln nicht verkneifen.
    »Mädchen«, ermahnte uns Mum dann und verbarg ihr Lächeln, indem sie einen Schluck Wein trank.
    Heute ist Donnerstag, einer der beiden Abende in der Woche, an denen ich nicht arbeite. Dad ist mindestens noch den ganzen nächsten Monat zu Hause. Jess liegt seit sieben im Bett und Mum, Dad und ich haben gerade zu Abend gegessen. Es ist gleich

Weitere Kostenlose Bücher