Wunder wie diese
nicht so genau, was ich machen soll, wenn Penny mit jemand anderem beschäftigt ist. Ich bin auch mit anderen in unserer Clique befreundet, aber ich fühle mich unsicher ohne unseren gewohnten Doppelakt. Verwirrt. Ich unterhalte mich mit Eleni und Nicola – noch so ein Zweiergespann innerhalb der größeren Gruppe –, aber ich kann mich nicht so richtig auf unser Gespräch konzentrieren. Am Ende der Mittagspause empfinde ich einen gewissen Ärger, den ich versuche zu verdrängen.
Es gibt Wichtigeres, sage ich mir.
Als ich an diesem Nachmittag zur Arbeit komme, sitzt Chris bereits an einer Kasse. Kathy treibt sich in seiner Nähe herum, aber ich kann sehen, dass der Kathy-Virus heute auf dem Rückzug ist, hoffentlich ein für alle Mal.
Ich schließe meinen Schrank im Belegschaftsraum auf, um meinen Rucksack und den Stoffbeutel hineinzustellen. Im Spind liegt ein zusammengefaltetes gelbes Papier, das, wie sich herausstellt, mehrere mit blauem Kugelschreiber beschriebene Seiten in Chris’ Handschrift sind. Ich lächle und stehe reglos da, meine Daumen streichen zärtlich über das Papier. Ich stelle mir vor, wie ich Chris’ Hand halte – nicht wie einen die eigene Mutter bei der Hand hielt, sondern mit ineinander verschränkten Fingern – und wie ich mit dem Daumen über die Vertiefung zwischen seinem Daumen und Zeigefinger streiche.
Der Aufenthaltsraum ist plötzlich voller Geplapper und schrillem Gelächter – es sind Alana und Kelly, die auch gerade aus der Schule kommen und nach Rauch riechen.
»Hi«, sage ich, aber sie scheinen mich weder zu hören noch zu sehen. Ich gehe an meine Kasse. Es gibt Wichtigeres, sage ich mir noch einmal.
»Wie zum Teufel geht’s dir, Kleine?«, begrüßt mich Chris freudig, während ich das Geschlossen-Schild vom Warenband neben seinem nehme. »Hast du’s gefunden?«
»Na klar, und ich freu mich schon, es zu lesen.«
»Wie war’s heute in der Schule?«
»Na ja«, entgegne ich. »Neuerdings kriegen wir Jungsbesuch in der Mittagspause.«
»Wie aufregend!«
»Nicht wirklich. Sie sind nicht besonders aufregend.«
»Hey, sei nicht zu streng mit fünfzehnjährigen Jungs, Kleine. Sie geben ihr Bestes.«
»Ich wünschte, sie würden es anderswo tun.«
Wie auf Befehl kommt Jeremy Hogan auf dem Weg zum Belegschaftsraum vorbei und ignoriert Chris und mich geflissentlich. Höchstwahrscheinlich aber nur mich.
»Hallo Jeremy!«, ruft Chris mit gefährlich klingender aufgesetzter Freundlichkeit.
Jeremy bleibt nichts anderes übrig, als rüberzusehen und »Tag, Chris« zu murmeln.
»Und an Amelia erinnerst du dich doch sicher auch noch?«
Jeremy wirft Chris einen wütenden Blick zu. »Klar«, bringt er hervor. »Wie geht’s denn?«
»Supergut, danke, Jeremy«, strahle ich und unterdrücke ein Kichern.
»Dann lass dich mal nicht weiter aufhalten, Tiger«, sagt Chris. »Heute solltest du besser nicht zu spät an deine Kasse kommen – Bianca ist nicht da.«
Jeremy trollt sich.
Chris lächelt mir zu. »Wenn’s nach ihm geht, hat dieser besondere Moment zwischen euch nie stattgefunden.«
»Wie kann er nur?«, sage ich mit gespielter Empörung. »Vielleicht… vielleicht, war es auch einfach nicht sooo besonders.«
»Aber wir wissen doch beide, dass das vollkommener Quatsch ist!«
In falscher Verzweiflung schlage ich die Hände über dem Kopf zusammen.
»Armer Jeremy, arme Alana und Kelly«, sagt Chris, während wir zusehen, wie die drei an uns vorbeischleichen. »Wenn Bianca nicht da ist, müssen sie tatsächlich mal arbeiten.«
»Das ist so gemein.«
»Und wie. Ich frage mich, ob Amnesty International schon informiert ist.«
»Wie kommst du mit deiner Abschlussarbeit voran?«, wechsle ich das Thema.
»Ach, diese olle Kamelle. Ich hab sie noch nicht im Griff. Aber ich habe diese Woche mit einem sehr interessanten Experiment angefangen.«
»Welche Hypothese hat dein Experiment?«
»Ich versuche herauszufinden, ob ein Zwanzigjähriger dauerhaft von schwarzem Kaffee, Rotwein, Bio-Datteln und Paracetamol leben kann.«
»Hmmm.«
»Es ist schon Mittwoch und ich bin noch immer putzmunter.«
Ich sehe ihn mir genauer an. Die dunklen Ringe um die Augen sind noch dunkler als sonst, seine Lippen sind spröde und aschfahl, genau wie sein Gesicht. Der letzte Haarschnitt liegt auch schon etwas länger zurück. Zweitagebart. Er ist wunderschön.
Um neun eile ich nach der Arbeit nach Hause und taste immer wieder nach dem Brief in meiner Tasche. Zu Hause ist es still. Dad ist
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