Wunderwaffe: Kriminalroman (German Edition)
gar nicht in Frankreich. Außerdem hatte er Tee nie gemocht. Zu bitter. Doch die letzten Worte dieses Absatzes ließen ihn stutzig werden. ›Hinterlassen.‹ Er hätte ›geschickt‹ schreiben können. Vielleicht das Wort einfach weglassen. Aber er wählte diesen Ausdruck. Jemand hinterlässt etwas nur nach seinem Tod. Zusätzlich noch ein Geschenk. Also wollte Erik sichergehen, dass er es abholte.
Nikolas schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn, nichts ergab einen Sinn. Ein weiteres Mal schlich er sich nach unten, nahm die halb volle Flasche Schnaps vom Tisch seines Vaters, stellte sich an das Fenster seines ehemaligen Kinderzimmers und setzte sie an. Wieder und wieder pochten die Gedanken gegen seine Schädeldecke.
Du hast den Brief so geschrieben, dass nur ich ihn verstehen kann, was, Erik? Hast gedacht, dass ich ihn einfach so entschlüssele. Nicht, dass du zu viel Hoffnung in mich gesetzt hast. Nicht, dass ich dich enttäuschen muss, weil ich nicht der kluge Mann bin, für den du mich immer gehalten hast, alter Freund.
Nikolas legte die Füße auf den Tisch und starrte in die kalte Oberkasseler Nacht hinaus. Erik war nicht viel aus Düsseldorf rausgekommen. Er liebte seine Heimat und sie war ihm genug. Nur ein einziges Mal hatte Erik Nikolas besucht. Kurz nachdem Nikolas die Stelle in Frankreich angetreten hatte, hatte er seine beiden Freunde zu sich eingeladen. Es war mehr seinem schlechten Gewissen geschuldet, dass er so einfach abgehauen war. Nikolas seufzte. Bei dieser einen Einladung hätte es nicht bleiben sollen, vielleicht würde er dann nicht hier sitzen. Er hatte damals noch keine Wohnung in Paris, also hatte er sich in einer kleinen Gaststätte eingemietet. Zu dritt hatten sie in einem winzigen Zimmer ihren Rausch ausgeschlafen. Es war wie früher. Einfach drei Freunde, die sich ein Getränk nach dem anderen hatten kommen lassen. Spät nach Mitternacht waren die Biere so schal, dass Martin sich lallend danach erkundigte, ob sie Tee bestellt hätten. Sie hatten herzlich darüber gelacht. Beim Gedanken daran zog Nikolas für einen Moment traurig die Mundwinkel nach oben. Dann wurde sein Blick glasig.
Die Schnapsflasche fiel auf den Boden und zerbrach in Dutzende Teile. Während sich die Flüssigkeit über das Holz verteilte, hielt Nikolas den Atem an. Es war nur ein Wort, doch es biss sich in seinem Verstand fest. Vor Anspannung konnte er nicht atmen. Er nahm den Brief in die Hände und führte ihn nah an sein Gesicht.
»Vieille tante«, flüsterte er zu sich selbst. »Alte Tante.«
Der Name der Gaststätte, in der schales Bier serviert wurde, das wie Tee aussah, war ›Vieille tante‹. Die Besitzerin war eine stämmige alte Dame mit hochtoupierten weißen Haaren. Die resolute Frau hatte die drei am Kragen gepackt und in ihre Zimmer geworfen, als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster krochen.
Nikolas schloss die Augen. Natürlich, das war es. Der Brief war zwar hastig geschrieben, jedoch war der Autor weder benebelt gewesen noch hatte er unter Drogen gestanden. Eriks Verstand war scharf wie ein Messer, als er diesen Brief verfasst hatte. Nikolas war nur zu blind gewesen, um ihn zu entschlüsseln. Als hätten sich Hunderte Nadelstiche auf einmal durch seine Haut gebohrt, war er nun hellwach, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.
Schnell zog er sich um, spritzte sich Wasser ins Gesicht, stopfte alles in einen Koffer und stürzte die Treppe hinunter.
»Vater? Vater!«, schrie es hell aus ihm heraus.
Es dauerte einige Zeit, bis dieser im Nachtgewand aus dem Schlafzimmer gehumpelt kam.
»Was lärmst du hier rum wie ein barbarischer Wilder?«, raunte er sichtlich verschlafen.
»Die Kripo hat dir damals einen Telefonapparat zur Verfügung gestellt, oder?«
»Ts, die Kripo hat mir viel zur Verfügung gestellt, nur kein zweites Bein.«
Nikolas tat so, als hätte er den Kommentar nicht gehört. »Wo ist er?«, zischte er seinen Vater an.
Mit einer Krücke deutet er in Richtung Schrankwand. Nikolas wuchtete den Tischfernsprecher auf die Kommode und ließ sich direkt zur richtigen Stelle in der Avenue Foch verbinden.
»Luger!«, bellte es nach wenigen Sekunden durch den Hörer.
Oh, noch wach und nicht auf meiner Verlobten?
»Herr Hauptsturmführer, Kriminalkommissar Brandenburg hier. Schicken Sie sofort ein paar Männer in die Gaststätte ›Vieille tante‹, Rue de Lourmel 13 im 7. Arrondissement. Sie sollen alle Gäste festhalten, bis ich eintreffe.«
Kurz war Ruhe. Nikolas
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