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. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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sich vor, um besser sehen zu können. Die Frau an dem Automaten drehte ihm den Rücken zu, doch er erkannte sie sofort.
    Der Wirt unterbrach ihn, als sich in seinem Kopf gerade eine völlig neue, sehr interessante Idee zu formen begann. »Was darf’s sein?«
    Morse bestellte ein Halbes Bitter und drängte sich beharrlich weiter seitwärts, bis er nur noch wenige Schritte hinter ihr stand. Sie schob gerade dem Wirt ihr Glas über den Tresen.
    »Noch einen Doppelten, Bert.«
    Sie öffnete eine auffallend große lederne Handtasche, und Morse, der neugierig den Hals reckte, konnte sehen, daß sie ein dickes Bündel Geldscheine enthielt. Fünfzig Pfund? Vielleicht sogar mehr. Hatte sie heute abend beim Bingo gewonnen?
    Morse war sicher, daß sie ihn bei dem Gewühl, das im Pub herrschte, nicht bemerken würde, und beobachtete sie unauffällig. Offenbar bevorzugte sie Whisky, und sie war wohl häufiger hier, denn sie schien einige der männlichen Gäste zu kennen und tauschte mit ihnen leicht anzügliche Bemerkungen aus. Und dann lachte sie plötzlich. Ein rauhes, etwas gewöhnliches Lachen, und Morse stellte bei sich fest, daß er sie merkwürdigerweise sehr anziehend fand. Also wirklich! Er betrachtete sie genauer. Ihre Figur war immer noch recht ansehnlich, und das Kleid, das sie trug, stand ihr. Zugegeben, sie war nicht mehr das, was man eine Schönheit nennt, das war ganz deutlich. Er bemerkte, daß sie abgekaute und gesplitterte Fingernägel hatte, daß der Zeigefinger ihrer rechten Hand von Nikotin dunkelbraun verfärbt war. Aber was machte das schon?! Morse leerte sein Glas und bestellte sich gleich ein zweites. Mit der Idee, die er da vorhin gehabt hatte, würde es heute abend doch nichts mehr werden. Er wußte natürlich auch, warum. Es war sehr einfach: Er brauchte eine Frau – er hatte aber keine. Er ging in eine der hinteren Ecken des Raums, suchte sich dort einen Platz und dachte, wie er das oft tat, nach über die geheimnisvolle Anziehungskraft von Frauen. In seinem Leben hatte es viele Frauen gegeben – vielleicht zu viele. Eine oder zwei tauchten sogar heute noch bisweilen in seinen Träumen auf und erinnerten ihn schmerzhaft an die Zeit, als er noch jung und voller Hoffnung gewesen war. Eine Zeit, die ein für allemal vergangen war. Er war jetzt Mitte Vierzig, unverheiratet und allein. Und hatte nichts Besseres zu tun, als hier in dieser schäbigen Public Bar zu sitzen, wo die Genüsse des Lebens sich auf Bier, Zigaretten, Kartoffelchips, Salznüsse und das Spiel am Automaten reduzierten … Der Aschenbecher vor ihm auf dem Tisch quoll über von Kippen und Asche, und er schob ihn angewidert beiseite. Dann trank er sein Glas leer und ging hinaus in die Nacht.
    Er befand sich in der Bar des Randolph Hotel . Ihm gegenüber saß ein Architekt, ein älterer Mann, der schwärmerisch von Raum, Licht und Schönheit sprach. Er hatte Griechisch und Latein studiert, trug ständig eine Melone und schlief unter einer Eisenbahnbrücke. Sie unterhielten sich über das Leben und die Menschen, und während sie miteinander sprachen, schritt ein Mädchen mit anmutigem Gang an ihnen vorbei zur Bar und bestellte sich dort einen Drink. Der Architekt boxte ihn in die Rippen und sah ihr nach mit einem Blick sehnsüchtiger Bewunderung.
    »Ist sie nicht hinreißend? Welch außergewöhnlicher Liebreiz!«
    Und Morse hatte gespürt, daß sie schön war und in ihrer Schönheit wesentlich. Doch er hatte nichts sagen können.
    Auf dem Rückweg von der Bar kam sie wieder an ihrem Tisch vorbei, und sie sahen ihr Profil und die verführerische Silhouette ihrer spitzen Brüste unter dem engen schwarzen Pullover. Und der alternde Architekt, der Liebhaber der klassischen Dichtkunst, der Schläfer unter Eisenbahnbrücken, stand auf und richtete mit ehrerbietiger Höflichkeit das Wort an sie.
    »Meine verehrte junge Dame, bitte fassen Sie es nicht als Zudringlichkeit auf, aber mein junger Freund hier und ich, wir möchten Ihnen sagen, daß wir Sie unbeschreiblich schön finden.«
    Für einen Augenblick erschien ein Ausdruck ungläubiger Freude in ihren Augen. Dann öffnete sie den Mund zu einem rauhen und ordinären Lachen.
    »Also, Jungs, da solltet ihr mich mal sehen, wenn die Schminke ab ist!« Sie legte dem Architekten ihre rechte Hand auf die Schulter, so daß ihre abgekauten Nägel und der nikotinverfärbte Zeigefinger zu sehen waren.
    Morse erwachte schweißgebadet. Draußen dämmerte kalt und unfreundlich ein neuer Tag herauf. Er

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