Wurzeln
Dunmore, mit seiner Flotte vor Norfolk liegend, habe befohlen, die Stadt innerhalb einer Stunde zu räumen. Er habe die Stadt beschossen, und es seien große Brände ausgebrochen. Ein großer Teil von Norfolk sei nur noch Schutt und Asche. Bell berichtete, in den Trümmern der Stadt seien Wasser und Nahrungsmittel knapp und Seuchen hätten so viele Menschen dahingerafft, daß der Hafen voller Leichen sei, die von der Flut angespült würden. »Die begraben sie in Sand und Schlamm«, sagte Luther. »Viele Nigger verhungern, und auf den englischen Schiffen geht’s ihnen dreckig.«
Über solch schreckliche Nachrichten nachsinnend, kam Kunta zu dem Schluß, daß all dieses Leiden auf unerforschliche Weise einen Sinn, einen Grund haben mußte, daß Allah es so gewollt hatte. Was auch den Schwarzen und den Weißen widerfuhr, es mußte von Ihm beabsichtigt sein.
Anfang des Jahres 1776 hieß es, ein General Cornwallis sei mit Truppen aus England herübergekommen und habe versucht, den großen York River zu überqueren, doch ein Sturm habe seine Schiffe zerstreut. Sodann verlautete, ein weiterer Kontinentalkongreß sei zusammengetreten, auf dem die Massers von Virginia für die Loslösung von England gestimmt hätten. Dann vergingen zwei ruhigere Monate, bis Luther mit der Nachricht kam: »Seit dem 4. Juli sind alle Weißen wie verrückt! Sie haben sich für unabhängig erklärt. Masser John Hancock hat seinen Namen ganz groß druntergeschrieben, damit der König ihn gut lesen kann.«
Von seinen nächsten Fahrten zur Stadt brachte Luther weitere Neuigkeiten mit. In Baltimore hatte man eine lebensgroße Puppe des Königs durch die Straßen gefahren und anschließend verbrannt. Die Weißen hatten dazu »Tyrann! Tyrann!« gebrüllt. Und in Richmond hatten königliche Truppen auf Weiße geschossen, die die Unabhängigkeit der Kolonien feierten. Im Sklavenquartier war die Stimmung gedrückt, und der alte Gärtner sagte immer wieder: »Nigger haben keinen Grund, sich zu freuen. Engländer oder Kolonisten, es sind alles Weiße.«
Etwas später, noch im Sommer, kam Bell wieder einmal mit einer Nachricht ins Sklavenquartier. Sie hatte gehört, wie ein Gast beim Mittagessen von einem neu erlassenen virginischen Gesetz erzählte.
»Jetzt dürfen Nigger zu den Soldaten, als Trommler, Pfeifer und Pioniere.«
»Was sind Pioniere?« fragte ein Feldarbeiter.
»Die sind immer vorn dran, wo man am schnellsten stirbt!« sagte der Fiedler.
Kurz darauf brachte Luther einen aufregenden Bericht von einer Schlacht hier in Virginia, in der auf beiden Seiten Sklaven mitgekämpft hatten. Rotröcke, freigelassene Sträflinge und Schwarze hatten eine kleine Streitmacht von weißen Kolonisten samt ihren Schwarzen über eine Brücke getrieben, aber ein Sklavensoldat namens Billy Flora hatte die Brücke unpassierbar gemacht. Die Engländer mußten haltmachen, und der Tag war damit für die Kolonisten gerettet.
»Eine Brücke abreißen! Das muß ein mächtig starker Nigger gewesen sein!« rief der Gärtner aus.
Als die Franzosen 1778 auf Seiten der Kolonisten in den Krieg eintraten, hörte Bell, daß eine Kolonie nach der anderen die Aufnahme von Sklaven in die Armee genehmigte, mit dem Versprechen, sie freizulassen, wenn der Krieg gewonnen war. »Jetzt lassen nur noch zwei Staaten keine Nigger kämpfen, Süd-Carolina und Georgia.«
»Das ist das einzig Gute, was ich je von den beiden gehört hab!« sagte der Fiedler.
Sosehr er die Sklaverei haßte, es schien Kunta doch, daß nichts Gutes dabei herauskommen könne, wenn die Weißen den Schwarzen Gewehre gaben. Zunächst einmal würden die Weißen immer noch mehr Gewehre haben als die Schwarzen, so daß jeder Aufstandsversuch mit einer Niederlage enden mußte. Und dann dachte er daran, wie in seiner Heimat die toubobs bösen Häuptlingen und Königen Gewehre und Kugeln gegeben hatten, bis Schwarze gegen Schwarze kämpften, Dorf gegen Dorf, und die Besiegten – Menschen ihres eigenen Volkes – in Ketten legten und an Sklavenhändler verkauften.
Einmal hörte Bell den Masser sagen, 5000 Schwarze, Freie wie Sklaven, seien an den Kämpfen beteiligt, und Luther wußte regelmäßig von Schwarzen zu berichten, die an der Seite ihrer Massers kämpften und starben. Luther erzählte auch von einigen nur aus Schwarzen bestehenden Kompanien. »Oben im Norden« gebe es sogar ein rein schwarzes Bataillon, das man »The Bucks of America« nannte. »Sogar ihr Oberst ist ein Nigger«, sagte Luther. »Middleton
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