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Wurzeln

Wurzeln

Titel: Wurzeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Haley
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Horizont – wie seine Onkel Janneh und Saloum – erweitern zu dürfen, sie war bald in der Hektik seiner neuen Pflichten vergessen.
    Er mußte zu den unmöglichsten Zeiten die Pferde einspannen, denn Masser Waller folgte dem Ruf seiner Patienten zu allen Tages- und Nachtstunden, auch wenn sie noch so weit entfernt, auf abgelegenen Farmen wohnten, die nur auf Wegen, kaum von Sturzäckern zu unterscheiden, erreichbar waren. Kunta war ein geschickter Kutscher, und dank seiner Umsicht kam man immer irgendwie heil ans Ziel, auch wenn die Schneeschmelze die roten Lehmwege in wahre Schlammbäche verwandelte.
    Als eines frühen Morgens Masser Wallers Bruder John mit der Nachricht kam, seine Frau liege in den Wehen, noch dazu zwei Monate zu früh, kutschierte Kunta die Brüder zum Hause der Wöchnerin, denn das Pferd von Masser John war total erschöpft. Man war kaum angelangt, als das Neugeborene bereits den ersten Schrei ausstieß. Es war ein Mädchen, fünf Pfund schwer, wie der Masser auf der Heimfahrt verlauten ließ, und es sollte auf den Namen Anne getauft werden.
    Das ging so fort. Während desselben hektischen Sommers brach eine Fieberepidemie aus, die im ganzen Kreis viele Opfer forderte – so viele, daß Masser Waller und Kunta kaum Schritt halten konnten und selber Fieber bekamen. Sie schluckten große Mengen Chinin, um sich auf den Beinen zu halten, und retteten mehr Leben, als sie verloren. Kuntas Leben wurde darüber zu einer unübersichtlichen Folge aus unzähligen Herrenhausküchen, kurzen Nickerchen auf fremden Pritschen in fremden Hütten oder im Heu und aus endlosen Stunden, die er vor den Sklavenquartieren oder den Herrenhäusern – mit immer den gleichen Schmerzensschreien im Ohr – im Wagen auf den Masser wartete, damit sie nach Hause zurück- oder – häufiger noch – zum nächsten Patienten fahren konnten. Doch fuhr Masser Waller nicht nur in Krisenzeiten aus. Manchmal vergingen ganze Wochen, in denen nichts Dringlicheres geschah als die normalen Besuche bei seinen Patienten oder bei dem einen oder anderen aus dem schier unerschöpflichen Vorrat an Verwandten und Freunden, dessen Pflanzung leicht mit dem Einspänner erreichbar war. Bei solchen Gelegenheiten – besonders im Frühling oder Sommer, wenn die Wiesen voll waren mit Blumen, wilden Erdbeeren und Brombeergesträuch und üppig rankender Wein die Zäune überwucherte – rollte der Wagen gemächlich hinter den beiden endlich zueinander passenden Braunen dahin, und Masser Waller nickte bisweilen unter dem schwarzen Sonnendach ein. Wachteln flogen auf, leuchtend rote Kardinäle hüpften umher, Wiesenstärlinge riefen, und hier und da glitt eine auf dem Wege sich sonnende Bullennatter vor dem herannahenden Wagen davon, oder ein Bussard flog mit heftigem Flügelschlag von seinem toten Kaninchen auf. Aber am liebsten war Kunta der Anblick einer einsamen alten Eiche oder Zeder mitten auf einem Feld; dann wanderten seine Gedanken zu den Brotbäumen Afrikas und zu den Alten, die sagten, daß, wo immer ein Brotbaum allein stehe, einst ein Dorf gewesen sei. An solchen Tagen dachte er an Juffure.
    Die privaten Besuche des Masser führten am häufigsten zu seinen Eltern, deren Pflanzung, Enfield, auf der Grenze zwischen King William County und King and Queen County lag. Wenn man sich dem Herrenhaus näherte, rollte der Wagen – wie bei allen Besitzungen der Waller-Familie – über eine breite, mit riesigen Bäumen bestandene Allee. Vor dem Haus, das auf einer leichten Anhöhe mit Blick auf einen schmalen, träge dahinfließenden Fluß lag und noch größer und stattlicher wirkte als das des Masser, erstreckte sich ein weitflächiger Rasen, und neben der Auffahrt stand ein dicker schwarzer Walnußbaum, unter dem der Einspänner zu halten pflegte.
    Während seiner ersten Monate als Kutscher hatten ihn alle Köchinnen der Pflanzungen, in deren Küchen Kunta sein Essen bekam – vor allem aber Hattie Mae, die hochmütige, tiefschwarze Köchin auf Enfield –, mißtrauisch beäugt. Sie verteidigten ihre Domäne ebenso grimmig entschlossen wie Bell ihre bei Masser Waller. Kaum eine von ihnen wagte es jedoch, sich mit Kuntas steifer Würde und Reserviertheit anzulegen, und so aß er unbehelligt und schweigend, was immer sie ihm – außer Schweinefleisch – vorsetzten. Im Laufe der Zeit gewöhnten sie sich aber an seine ruhige Art, und nach dem sechsten oder siebten Besuch war offenbar sogar die Köchin von Enfield überzeugt, daß eine Unterhaltung mit

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