Wurzeln
heißt er.« Er blickte den Fiedler verschmitzt an. »Du rätst nie, was er ist!«
»Wie meinst du das?« fragte der Fiedler.
»Er ist auch ein Fiedler! Und’s wird Zeit, daß ein bißchen gefiedelt wird!«
Darauf summte er ein neues Lied, das er in der Stadt gehört hatte. Es hatte eine eingängige Melodie, und bald sangen andere mit, und wieder andere schlugen mit Stöcken den Takt dazu: »Yankee Doodle came to town, ridin’ on a pony …« Und als der Fiedler es ebenfalls spielte, tanzten die Kinder im Sklavenquartier und klatschten in die Hände.
Im Mai 1781 hieß es, berittene Rotröcke hätten Masser Thomas Jeffersons Pflanzung Monticello verwüstet. Sie hatten die Ernte vernichtet, die Scheune niedergebrannt, das Vieh fortgetrieben und alle Pferde und dreißig Sklaven mitgenommen. »Die Weißen sagen, Virginia muß gerettet werden«, berichtete Luther, und kurz darauf erzählte er, die Weißen erwarteten jubelnd die Ankunft von General Washington mit seiner Armee. »Und da sind viele Neger dabei!« Im Oktober war zu hören, Washington und Lafayette hätten Yorktown beschossen und den englischen General Cornwallis angegriffen. Und bald darauf war von anderen Schlachten in Virginia, New York, Nord-Carolina, Maryland und weiteren Staaten die Rede. Dann, in der dritten Woche des Monats, kam eine Nachricht, die sogar das Sklavenquartier in Freudenstimmung versetzte: »Cornwallis hat kapituliert! Der Krieg ist aus! Alle sind frei!«
Luther fand kaum Zeit zum Schlafen, so oft mußte er anspannen, und der Masser lächelte wieder – zum erstenmal seit Jahren, sagte Bell.
»Wo ich hinkomm, schrein die Schwarzen so laut wie die Weißen«, sagte Luther.
Am meisten hätten die Sklaven ihren eigenen Helden »Old Billy« Flora gefeiert, der kürzlich entlassen worden war und seine treue Muskete mit nach Norfolk zurückgebracht hatte.
»Kommt alle mal her!« rief Bell wenig später die Bewohner des Sklavenquartiers zusammen. »Der Masser hat eben gesagt, Philadelphia wird zur ersten Hauptstadt von den Vereinigten Staaten gemacht!« Aber es war Luther, der ihnen später erzählte: »Masser Jefferson hat ein neues Gesetz gemacht. Jetzt dürfen die Massers ihre Nigger freilassen, wenn sie wollen. Die Quäker und die freien Nigger im Norden sind aber unzufrieden damit, weil die Massers nicht müssen, wenn sie nicht wollen.«
Als General Washington Anfang November 1783 die Armee auflöste, womit formell das beendet war, was man inzwischen den »Siebenjährigen Krieg« nannte, verkündete Bell im Sklavenquartier: »Der Masser hat gesagt, jetzt wird Frieden.«
»Wird keinen Frieden geben, nicht, solange es Weiße gibt«, meinte der Fiedler verdrießlich, »weil sie nichts lieber tun als totschlagen.« Er blickte sich im Kreis um. »Glaubt mir – ’s wird noch schlimmer werden als vorher für uns Nigger.«
Kunta und der alte Gärtner redeten später noch leise miteinander. »Du hast doch viel gesehn, seit du hier bist. Wie lange ist das jetzt?« Kunta wußte es nicht, und das beunruhigte ihn.
In der Nacht ordnete Kunta die bunten Steine, die er mit jedem neuen Mond getreulich in seine Kalenderflasche geworfen hatte, in Häufchen zu zwölfen. Was die Steine ihm schließlich sagten, erschütterte ihn so sehr, daß der Gärtner nie eine Antwort auf seine Frage bekam. Auf dem gestampften Boden seiner Hütte lagen siebzehn Steinhäufchen. Er war vierunddreißig Regen alt! Was in Allahs Namen war mit seinem Leben geschehen? Er war jetzt schon so lange im Land der Weißen, wie er vorher in Juffure gelebt hatte! War er noch ein Afrikaner, oder war er schon ein »Nigger« geworden, wie die anderen sich selbst nannten? War er überhaupt noch ein Mann? Er war so alt wie der Vater, als er ihn zuletzt gesehen hatte, aber er hatte keine Söhne, keine Frau, keine Familie, kein Dorf, kein Volk, keine Heimat, fast keine Vergangenheit, die ihm noch irgendwie wirklich erschien, und keine Zukunft, auf die er sich hätte freuen können. Es war, als wäre Gambia ein vor langer Zeit geträumter Traum. Oder schlief er noch? Und wenn er schlief – würde er je aufwachen?
Kapitel 57
Kunta brauchte nicht lange über seine Zukunft nachzugrübeln; schon ein paar Tage später verbreitete sich eine Neuigkeit wie ein Lauffeuer über die ganze Pflanzung. Bell verkündete atemlos – nachdem der Sheriff gekommen und zu einer geheimen Besprechung mit dem Masser hinter verschlossenen Türen verschwunden war –, daß ein entflohenes und
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