Wurzeln
ihm nicht unpassend für sie sei, und geruhte, ihn anzusprechen.
»Weißt du überhaupt, wo du hier bist?« fragte sie ihn eines Tages unvermittelt, als er gerade über seinem Essen saß. Er antwortete nicht, und sie hatte auch nicht mit einer Antwort gerechnet.
»Das hier ist nämlich das erste amerikanische Haus von den Wallers. Hier haben seit hundertfünfzig Jahren nur Wallers gelebt.« Und sie erzählte, daß Enfield anfangs nur halb so groß gewesen sei wie jetzt, daß aber nachher ein anderes Haus vom Fluß heraufgebracht und angebaut worden war. »Unser Kamin ist aus Ziegeln, die auf Schiffen von England gekommen sind«, fügte sie stolz hinzu. Kunta nickte höflich, als sie weiterschwatzte, aber es machte keinen sonderlichen Eindruck auf ihn.
Zuweilen besuchte Masser Waller auch Newport, Kuntas erstes Ziel als Kutscher, und es schien ihm kaum glaublich, daß seit damals schon ein ganzes Jahr vergangen war. In einem Haus, das Kunta sehr an Enfield erinnerte, lebten dort Onkel und Tante des Masser, ein altes Ehepaar. Während die Weißen im Eßzimmer saßen, versorgte die Köchin, die mit einem großen Schlüsselring an einem schmalen Ledergurt über der Schürze einherstolzierte, Kunta in der Küche. Er wußte inzwischen, daß an diesen Schlüsselringen, die alle ranghöchsten Hausmädchen trugen, außer den Schlüsseln zu den Speise- und Räucherkammern, den Kühlkellern und Vorratsräumen auch die Schlüssel zu allen Zimmern und Schränken des Herrenhauses hingen. Es war ihm noch keine Köchin begegnet, die die Schlüssel als Zeichen ihrer Würde und Wichtigkeit nicht bei jedem Schritt rasseln ließ, doch rasselten sie bei keiner so laut wie bei der Köchin auf Newport.
Auch sie hatte offenbar – wie schon die Köchin auf Enfield – entschieden, daß man mit Kunta reden konnte, und so legte sie bei einem seiner Besuche plötzlich den Finger an die Lippen und führte ihn auf Zehenspitzen zu einer kleinen, tiefer im Herrenhaus gelegenen Kammer. Sie machte ein gewaltiges Ereignis daraus, die Tür mit einem der Schlüssel an ihrer Taille aufzuschließen. Dann führte sie Kunta hinein, deutete auf eine Sammlung, die an einer der Wände hing, und erklärte ihm, daß es sich um das Wappen der Wallers, ihr silbernes Siegel, eine Ritterrüstung, ein silbernes Schwert und das Gebetbuch des ersten Colonel Waller handelte. Entzückt über die nur schlecht verhehlte Verblüffung auf Kuntas Gesicht verkündete sie: »Der alte Colonel hat Enfield gebaut – aber begraben ist er hier.« Und beim Hinausgehen zeigte sie ihm das Grab und den Stein mit der Inschrift. Als Kunta den Stein eine Weile betrachtet hatte, fragte sie mit gespielter Beiläufigkeit: »Willst du wissen, was da steht?« Kunta nickte, und sie »las« geschwind die längst auswendig gelernten Zeilen: »Gewidmet dem Gedenken an Colonel John Waller, Gentleman, dritter Sohn des John Waller und der Mary Key aus Newport Paganel, Buckinghamshire, der sich 1653 in Virginia niederließ.«
Kunta merkte bald, daß auf dem auch im Kreis Spotsylvania gelegenen Prospect Hill etliche Vettern des Masser lebten. Das Herrenhaus war wie Enfield anderthalb Stockwerke hoch, und die Köchin auf Prospect Hill erklärte ihm, daß die sehr alten Herrenhäuser fast alle die gleiche Höhe hätten, weil auf zweistöckige Häuser eine Sondersteuer des Königs erhoben worden war. Im Gegensatz zu Enfield war Prospect Hill ziemlich klein – kleiner als die anderen Herrenhäuser der Wallers –, dafür hatte aber kein anderes, wie sie ihm – ob er es hören wollte oder nicht – versicherte, eine größere Eingangshalle oder eine steilere Wendeltreppe.
»Raufgehen tust du ja nicht, aber trotzdem kannst du ruhig wissen, daß wir da oben so hohe Himmelbetten haben, daß sie Leitern dafür brauchen. Und drunter haben sie die Rollbetten für die Kinder stehn. Und ich will dir mal was sagen, die Betten, die Ziegel vom Kamin, das Gebälk, die Türangeln, alles, was nicht schon vorher dagewesen ist, haben alles Niggersklaven gemacht.«
Vom Garten aus zeigte sie Kunta die erste Weberei, die er zu sehen bekam, sie lag ganz in der Nähe des Sklavenquartiers – das sich kaum von dem ihren unterschied –, und dahinter, jenseits eines Teiches, war ein Sklavenfriedhof. »Ich kann mir denken, daß du dir den nicht ansehn willst«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Er fragte sich, ob sie auch ahnte, wie befremdlich und traurig es ihm schien, daß sie – wie viele andere –
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