Wurzeln
durften sie so laut sein, wie sie wollten. Kunta fuhr selten die blumengesäumte Einfahrt hinauf oder hinunter, ohne die beiden von irgendwoher quietschen und lachen zu hören; sie tobten im Haus, im Hof, im Garten und – Bells Ermahnungen zum Trotz – in Hühnerställen, Schweinekoben und Scheune ebenso wie in den unverriegelten Hütten des Sklavenquartiers.
Eines Nachmittags, als Kunta mit dem Masser unterwegs war, nahm Kizzy ihre Freundin mit nach Hause, um ihr Kuntas Kieselsteinflasche zu zeigen, die sie während ihrer Bettlägerigkeit entdeckt hatte und höchst geheimnisvoll fand. Bell kam zufällig herein, als Kizzy gerade in den Hals des trockenen Gehäuses langte, und ein Blick genügte ihr. »Finger weg von Daddys Steinen!« schrie sie. »Die sagen ihm doch, wie alt er ist!« Anderntags brachte Roosby dem Masser einen Brief von seinem Bruder, und fünf Minuten später wurde Bell von Masser Waller ins Wohnzimmer gerufen, und zwar in beängstigend scharfem Ton. »Missy Anne hat ihren Eltern etwas erzählt, was sie in eurer Hütte gesehen hat. Was soll dieser afrikanische Hokuspokus mit Steinen, die bei jedem Vollmond in eine Kürbisflasche getan werden?« herrschte er sie an.
In Bells Hirn wirbelte es. »Was’n für Steine, Masser?« stotterte sie.
»Du weißt sehr gut, was ich meine!« versetzte der Masser.
Bell zwang sich ein nervöses Kichern ab. »Ach, nun weiß ich, was Ihr meint! Kein Hokuspokus, Sörr. Mein afrikanischer Nigger kann nicht zählen, Masser, das ist alles. Drum wirft er bei Neumond immer ’n kleines Steinchen in den Kürbis, damit er ungefähr weiß, wie alt er ist.«
Masser Waller runzelte zwar noch die Stirn, entließ Bell jedoch mit einer kurzen Handbewegung zurück in die Küche. Zehn Minuten später platzte sie in die Hütte, riß Kizzy von Kuntas Schoß, schlug ihr ein paarmal mit der flachen Hand aufs Hinterteil und schrie sie an: »Wenn du mir dieses Balg noch mal hier reinbringst, dreh ich dir den Hals rum, verstanden?«
Nachdem die schluchzende Kizzy ins Bett geflüchtet war, nahm Bell sich so weit zusammen, daß sie Kunta einigermaßen ruhig erklären konnte: »Ich weiß ja, das mit deinen Steinen im Kürbis ist ganz harmlos, aber da siehst du selber, was ich dir immer gesagt hab: du machst uns nur Ärger mit deinem Afrikanerkram! Und der Masser vergißt nichts!«
Kunta empfand eine so ohnmächtige Wut, daß er beim Abendessen keinen Bissen hinunterbrachte. Nachdem er den Masser seit mehr als zwanzig Regen fast täglich über Land kutschiert hatte, erstaunte und erbitterte ihn der Gedanke, noch immer mit Mißtrauen betrachtet zu werden, nur weil er sein Alter mit Kieseln in einer Kürbisflasche registrierte.
Es dauerte zwei Wochen, bis die gereizte Stimmung sich genügend entspannt hatte, daß Missy Anne wiederkommen durfte – und dann war es, wie Kunta mit Verdruß feststellte, als sei nichts geschehen. Die Beerenzeit war auf dem Höhepunkt, und die Kinder streiften überall an den windenumrankten Koppelzäunen entlang, suchten die dunkelgrünen Stellen, wo wilde Erdbeeren wuchsen, und kamen mit vollen Eimerchen und purpurnen Mündern wieder nach Hause. An anderen Tagen brachten sie andere Schätze wie leere Schneckenhäuser, ein Vogelnest, eine verrostete Pfeilspitze, die sie alle stolz zur Besichtigung vor Bell ausbreiteten, bevor sie sie an ihrem Geheimort versteckten und ein anderes Spiel begannen, zum Beispiel Lehmkuchenbacken. Nachmittags meldeten sie sich dann, bis zu den Ellbogen mit Lehmpampe beschmiert, in der Küche, wurden augenblicklich wieder hinausbeordert, damit sie sich am Brunnen wuschen, bevor das selig spielmüde Pärchen die Leckerbissen aß, die Bell schon bereithielt, und sich zu einem Schläfchen auf die gemeinsame Polstermatte legte. Wenn Missy Anne im Herrenhaus übernachten durfte, leistete sie ihrem Onkel beim Abendessen und bis zur Schlafenszeit Gesellschaft, bis der Masser Bell sagen ließ, es sei nun Zeit für ihre Gute-Nacht-Geschichte. Dann kam Bell mit ihrer auch schon ganz schlaftrunkenen Kizzy und erzählte den beiden in Fortsetzungen, wie Bruder Fuchs Bruder Karnickel überlistete, bis er zur Strafe in die Falle ging.
Kunta mißfiel die Vertraulichkeit zwischen den beiden Mädchen mit jedem Tag mehr, den Kizzy heranwuchs. Zwar mußte er halben Herzens zugeben, daß es ihn freute, wenn Kizzy ihre Kindheit so richtig genoß, und er mußte Bell notgedrungen beipflichten, daß man als Spielzeug der toubobs im Leben immer noch
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