Wurzeln
das Erntefest, aber das ging zu rasch vorüber, und dann stand einem die entsetzlich lange Trockenzeit bevor, mit dem gräßlichen harmattan , die Mutter würde ihn anschreien und Lamin klapsen, bis Kunta geradezu Mitleid mit dem lästigen kleinen Bruder bekam. Als er die Ziegen zurücktrieb, fiel ihm ein, daß er in Lamins Alter endlose Geschichten angehört hatte, die immer nur davon handelten, wie auch schon die Vorfahren unter Ängsten und Gefahren gelitten hatten. Kunta vermutete, daß sein Volk immer ein schweres Dasein gehabt habe, seit Anbeginn der Zeiten. Und daran würde sich vielleicht niemals etwas ändern.
Der alimamo betete nun allabendlich zu Allah um Regen, und richtig, eines Tages erhob sich eine leichte Brise, die den Staub aufwirbelte und Erwartungen in den Dorfbewohnern weckte, denn sie kündigte den Regen an. Am folgenden Morgen wanderten alle auf die Felder hinaus, wo nun das aufgehäufte Unkraut in Brand gesetzt wurde. Dichter Qualm legte sich über die Felder, die Hitze war fast nicht zu ertragen, doch die schwitzenden Menschen tanzten und jubelten, die Kinder des ersten kafo tollten umher und versuchten die Ascheflöckchen zu erhaschen, die Glück bringen sollten. Die leichte Brise des folgenden Tages breitete die Asche über die Felder aus und düngte sie so für eine neue Aussaat. Die Männer zogen mit den Hacken wieder Furchen in die Erde für die neue Saat – die siebte, die Kunta in diesem endlosen Kreislauf der Jahreszeiten erlebte.
Kapitel 15
Zwei Regen waren vorübergegangen, und wieder war Bintas Bauch dick und ihr Zorn noch leichter zu erregen als sonst. Ihr Handgelenk saß so locker, daß Kunta mit Freuden jeden Morgen die Hütte verließ, denn die Ziegen bewahrten ihn auf Stunden vor der Gefahr, Schläge einzufangen, und heimgekehrt, bedauerte er von Herzen seinen Bruder Lamin, der zwar alt genug war, Dummheiten anzustellen, aber nicht alt genug, auf eigene Faust das Weite zu suchen. Als er eines Nachmittags den Kleinen wieder in Tränen aufgelöst antraf, fragte er daher seine Mutter, ob er Lamin mitnehmen dürfe, und zu seinem Erstaunen gab Binta schroff die Erlaubnis. Der Kleine konnte sich angesichts eines solchen überraschenden Gunstbeweises kaum fassen, bekam aber, kaum außer Sichtweite der Mutter, von Kunta gleich eine Ohrfeige, denn der ärgerte sich darüber, daß er sich zu einem solchen rührseligen Akt des Mitleids hatte hinreißen lassen. Lamin heulte laut, folgte dem Bruder aber dann doch wie ein treues Hündchen.
Von da an saß Lamin jeden Nachmittag auf der Türschwelle, wenn Kunta heimkam, voller Hoffnung, der Bruder möchte ihn wieder mitnehmen. Das tat Kunta denn auch fast täglich, doch nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil er seiner Mutter anmerkte, wie erleichtert sie war, beide Knaben los zu sein, und weil er fürchtete, sich Prügel einzuhandeln, wenn er ihr diese Wohltat wieder entzog. Kunta kam sich vor wie in einem schlechten Traum; sein Bruder war wie ein Blutegel, der sich im bolong auf seinem Rücken angesiedelt hatte. Kunta bemerkte allerdings, daß es ihm nicht allein so ging; auch andere seines kafo schleppten kleine Brüder mit sich herum. Diese spielten abseits für sich, ließen die großen Brüder aber nie aus dem Auge, die ihrerseits die Kleinen nach Kräften ignorierten. Manchmal liefen die Großen weg und höhnten die Kleinen, die ihnen folgten, so rasch sie nur konnten, um sie einzuholen. Kletterten Kunta und die Kameraden auf Bäume, plumpsten die Kleinen, die ihnen folgen wollten, meist von den unteren Ästen zu Boden und wurden dafür von den Älteren ausgelacht. Mit der Zeit fand man es geradezu lustig, diese Zwerge um sich zu haben.
War Kunta mit Lamin allein, widmete er seinem Bruder mehr Aufmerksamkeit. So etwa zeigte er ihm einen Kapoksamen und erklärte ihm, daß der riesige Kapokbaum aus einem solchen Samen gewachsen sei. Er fing eine Biene ein und zeigte Lamin ihren Stachel, erklärte ihm, wie sie den Nektar aus Blüten saugte und Honig machte in ihren Waben hoch in den Wipfeln der Bäume. Und Lamin seinerseits stellte unendlich viele Fragen, die Kunta nach bestem Vermögen geduldig beantwortete. Es schmeichelte ihm, daß der kleine Bruder ihm so viele Kenntnisse zutraute. Kunta fühlte sich dabei älter als seine acht Regen, und er sah in seinem Bruder nicht mehr nur ein lästiges Geschöpf.
Selbstverständlich war er bemüht, sich das nicht anmerken zu lassen, doch wenn Kunta mit den Ziegen nachmittags heimkam,
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