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Wurzeln

Wurzeln

Titel: Wurzeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Haley
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der Masser es noch mal zählt und dann in die Tasche steckt. Gleich danach geht der Krach los. Der Mann sagt, die Eier gehören auch dazu. Da fängt der Masser wie verrückt an zu fluchen! Rennt hin, reißt die Henne hoch und stampft und tritt die ganzen Eier zu Brei. Dann haben sie sich geprügelt, bis der andere Mann auf einmal die Henne packt, auf sein Pferd springt und dem Masser zuruft: ›Den Schädel würd ich dir einschlagen, wenn du nicht so verdammt alt wärst!‹«
    Mit jedem Tag wuchsen Unruhe und Besorgnis im Sklavenquartier, und in den Nächten schliefen alle schlecht, denn die Vorahnung einer heraufziehenden Katastrophe ließ niemanden recht zur Ruhe kommen. Während des Sommers 1855 und bis in den Herbst hinein richteten sich bei jedem Wutanfall des Masser und jedesmal, wenn er fortging oder wiederkam, die Blicke der gesamten Familie unweigerlich auf den zweiundzwanzigjährigen Schmied Tom, als wollten sie ihn bitten, etwas zu tun, aber Tom tat nichts. Eines Samstagabends im November saß Matilda am Fenster ihrer Hütte und wartete, bis der letzte Kunde die Schmiede verlassen hatte. Es war ein gutes Erntejahr gewesen, und jeder wußte, daß der Masser für Baumwolle und Tabak von fünfundsechzig Morgen Land gut bezahlt worden war. Nun rannte Matilda zu Tom hin, und er sah ihrem Gesicht sogleich an, daß sie etwas Besonderes auf dem Herzen hatte.
    »Was gibt’s, Mammy«, fragte er und kümmerte sich weiter um das Feuer.
    »Ich hab nachgedacht, Tom. All ihr sechs Jungen seid jetzt erwachsen. Du bist nicht mein Ältester, aber ich bin deine Mammy, und ich weiß, daß du der Vernünftigste bist«, sagte sie. »Außerdem bist du Schmied, und die andern sind nur Feldarbeiter. Sieht also so aus, als ob du jetzt der Mann in der Familie bist, seit Pappy weg ist – das ist jetzt acht Monate her –«, Matilda zögerte und fügte dann als treue Ehefrau hinzu, »wenigstens so lange, bis er wieder da ist.«
    Tom war wirklich bestürzt. Seit er ein kleiner Junge war, hatte er sich stets zurückgehalten. Obgleich er mit seinen Brüdern zusammen aufgewachsen war, hatte er doch zu keinem von ihnen eine engere Beziehung entwickelt, dann war er jahrelang als Schmiedelehrling fort gewesen, und seit seiner Rückkehr war er ständig allein in seiner Schmiede beschäftigt, während die anderen draußen auf den Feldern arbeiteten. Er hatte besonders wenig Kontakt mit Virgil, Ashford und Klein George, und das aus verschiedenen Gründen. Virgil war jetzt sechsundzwanzig Jahre alt und verbrachte seine freie Zeit meist auf der benachbarten Pflanzung bei seiner Frau Lilly Sue und ihrem neugeborenen Sohn, den sie Uriah genannt hatten. Was den fünfundzwanzigjährigen Ashford betraf, so hatten er und Tom sich nie gemocht und gingen sich aus dem Weg – außerdem lag Ashford in letzter Zeit mit Gott und der Welt im Streit, weil ein Mädchen, das er unbedingt heiraten wollte, von ihrem Masser untersagt bekommen hatte, mit ihm über den Besen zu springen; einen »hochnäsigen Nigger« hatte er Ashford noch dazu genannt. Der vierundzwanzigjährige Klein George schließlich war dick und behäbig geworden, seit er zu der Köchin einer benachbarten Pflanzung, die doppelt so alt war wie er, zärtliche Bande unterhielt, was die Familie zu abfälligen Kommentaren veranlaßte, wie: »Der macht jeder den Hof, die ihm seinen dicken Bauch füllt.«
    Als nun Matilda ihm eröffnete, daß sie ihn als Familienoberhaupt betrachte, war er um so mehr bestürzt, als er wußte, daß er in diesem Fall auch bei Masser Lea der Fürsprecher seiner Familie zu sein hatte, und von dem hatte er sich bislang möglichst ferngehalten. Seitdem die Ausrüstung für eine Schmiede angeschafft worden war, schien der Masser irgendwie Toms ruhige und zurückhaltende Art und seine offensichtliche Begabung für die Schmiedekunst, die ihm immer mehr Kunden einbrachte, zu respektieren. Die Bezahlung für alle von Tom ausgeführten Arbeiten strich der Masser ein, und der gab Tom jeden Sonntag zwei Dollar Wochenlohn.
    Tom hatte nicht nur einen angeborenen Widerwillen gegen langes Gerede, mit wem auch immer, sondern auch eine Neigung zu schweigsamem Nachdenken. So hätte niemand sich träumen lassen, daß er sich schon seit mehr als zwei Jahren unablässig mit dem Gedanken an jenen von seinem Vater beschriebenen Norden, in dem Schwarze frei leben konnten, beschäftigte. Tom hatte sich lange überlegt, ob er der gesamten Sklavenquartierfamilie vorschlagen sollte, einen

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