Wurzeln
Verkehr, und er wußte sofort, daß die Leute bestimmt nach Company Shops ritten, wo der Telegraphenbeamte all die wichtigen Nachrichten über den Draht erhielt. Einige Reiter riefen einander ein paar Worte zu, aber Tom entnahm ihnen nur, daß sie ebensowenig wußten wie er. Als er dann an armen Weißen und Schwarzen, die zu Fuß gingen, vorüberritt, wußte Tom, daß er sich auf das Schlimmste gefaßt machen mußte, aber sein Herz krampfte sich trotzdem zusammen, als er an den Eisenbahn-Reparaturwerkstätten ankam und die große lärmende Menschenmenge vor dem Telegraphenhaus erblickte.
Er sprang ab, band sein Maultier an und machte einen großen Bogen um die wütend gestikulierenden weißen Männer, die auf die Telegraphendrähte starrten, als ob sie erwarteten, dort die Nachrichten zu sehen. An einer Ecke des Platzes stand eine Gruppe von Schwarzen, der er sich zugesellte, und nun hörte er, was sie so aufgeregt durcheinanderschwatzten: »Masser Lincoln, der wird jetzt für uns kämpfen!« – – – »Sieht aus, wie wenn der liebe Herrgott doch ’n bißchen was für die Nigger übrig hat!« – – – »Kann’s gar nicht glauben!« – – – »Frei, du lieber Gott, frei!«
Tom nahm einen alten Mann beiseite und erfuhr von ihm, was sich zugetragen hatte. Die Truppen von Süd-Carolina beschossen die Bundesfestung Sumter in Charleston Harbor, und neunundzwanzig andere Garnisonen des Bundes im Süden waren auf Befehl des Präsidenten Davis von Südstaatlern besetzt worden. Der Krieg hatte also wirklich begonnen. Tage später hieß es, daß die Festung Sumter sich nach zwei Tagen der Belagerung ergeben hatte, daß es auf beiden Seiten je fünfzehn Tote gab und daß über tausend Sklaven die Einfahrt zum Hafen von Charleston mit Sandsäcken verbarrikadierten. Der Gouverneur von Nord-Carolina, John Ellis, hatte Präsident Lincoln jede Truppenhilfe verweigert und Tausende mit Musketen ausgerüstete Männer der konföderierten Armee zugeführt. Präsident Davis forderte alle weißen Südstaatler zwischen achtzehn und fünfunddreißig Jahren auf, sich freiwillig zu einem dreijährigen Heeresdienst zu melden. Außerdem hatte er befohlen, daß jeder zehnte männliche Sklave von jeder Pflanzung dem Heer für unbezahlte Arbeit zur Verfügung gestellt werden müsse. General Robert E. Lee hatte seinen Dienst bei der Armee der Vereinigten Staaten quittiert, um den Oberbefehl der Armee von Virginia zu übernehmen. Man behauptete auch, daß in jedem Regierungsgebäude von Washington D.C. bewaffnete Soldaten hausten und daß man Barrikaden aus Eisen und Zement errichtet habe, weil man einen Einfall der südstaatlichen Streitkräfte befürchtete.
Unterdessen wurden die weißen Männer überall in Alamance County zum Heeresdienst aufgerufen. Tom hörte von einem Sklaven, daß sein Masser seinen vertrautesten Diener zu sich gerufen und ihm gesagt habe: »Hör zu, Junge. Daß du mir gut auf die Missis und die Kinder aufpaßt, bis ich wieder zurück bin, verstanden?« Zahlreiche Weiße aus der Nachbarschaft kamen zu Tom, um ihre Pferde beschlagen zu lassen, bevor sie in Mebane zur neuformierten »Hawfields Company« von Alamance County einrückten. Von dort ging es mit der Eisenbahn zum Übungslager Charlotte. Ein schwarzer Kutscher, der seinen Masser und seine Missy zum Bahnhof gefahren hatte, wo sie sich von ihrem ältesten Sohn verabschieden wollten, beschrieb Tom die Szene: Die Frauen weinten bitterlich, ihre Jungens lehnten sich aus den Wagenfenstern und ließen ihr Kriegsgeschrei los; viele von ihnen riefen: »Den Dreckskerlen von Yankees werden wir’s schon geben – zum Frühstück sind wir wieder da!« Der Kutscher erzählte: »Der junge Masser hatte seine neue graue Uniform an, und geheult hat er genauso wie der alte Masser und die Missy. Sie haben sich geküßt und umarmt, und schließlich wurden sie einfach voneinander weggerissen. Sie standen noch lange auf der Straße und haben geschluchzt. Und offen gestanden: Ich hab auch geheult!«
Kapitel 111
Es war spätnachts, die Petroleumlampe erhellte ihre Hütte nur spärlich; Irene lag zum zweitenmal in den Wehen, und Tom saß an ihrem Bett, so daß sie ängstlich nach seiner Hand tasten konnte. Als plötzlich ihr leidvolles Stöhnen in lautes Schreien überging, stürzte Tom hinaus, seine Mutter zu holen. Matilda war trotz der späten Stunde noch nicht eingeschlafen. Auch sie hatte den Schrei Irenes gehört. Tom traf sie, als sie sich gerade anschickte, ihre Hütte
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