Wurzeln
zu verlassen. Klein Kizzy und Mary, die mit großen Augen dastanden, befahl sie: »Macht Wasser heiß, ’n paar Töpfe voll, und bringt’s mir rasch!«
Schon huschten die übrigen erwachsenen Mitglieder der Familie aus ihren Hütten, einer nach dem anderen. Toms fünf Brüder folgten seinen aufgeregten Schritten, auf und ab und hin und her, während drinnen die Schreie Irenes immer lauter wurden. Dann, in der ersten Morgendämmerung, verstummten sie, nun abgelöst von dem durchdringenden Wimmern eines Kindes. Tom sah sich von seinen Brüdern umringt, sie klopften ihm erleichtert auf den Rücken und quetschten seine Hände – sogar Ashford –, bis endlich Matilda in der Tür der Blockhütte erschien und bewegt rief: »Es ist wieder ein Mädchen, Tom!« Als später der strahlende Morgen heraufzog,. strömte die ganze Familie mit Tom an der Spitze in die Hütte wie eine Prozession, um die noch blasse, aber schon wieder lächelnde Irene und vor allem dieses Bündel Kind mit seinem faltigen braunen Gesichtchen zu bewundern.
Matilda hatte längst die große Neuigkeit im Herrenhaus verbreitet. In aller Eile versah sie ihre Küchenpflichten. Masser und Missis Murray begaben sich gleich nach dem Frühstück zu den Sklavenhütten, um das unter ihrem Patronat neugeborene Baby entzückt in Augenschein zu nehmen. Irenes Wunsch war, diese zweite Tochter Ellen zu nennen, nach Irenes Mutter. Tom willigte ein. Er war so sehr von Stolz erfüllt, abermals Vater geworden zu sein, daß er für eine Weile vergaß, wie sehr er sich eigentlich einen Jungen gewünscht hatte.
Matilda wartete bis zum nächsten Nachmittag, bevor sie die Schmiede aufsuchte.
»Na, Tom, du weißt, woran ich denke?« fragte sie.
Tom lächelte. »Bißchen spät, Mammy. Ich hab’s doch längst schon überall rumgetragen – und sag’s jetzt also auch dir –, daß natürlich Samstag abend jeder dabeisein muß, wenn ich der Kleinen unsre Familiengeschichte erzähle, genauso wie Maria, als sie zur Welt kam.«
So versammelte sich die Familie. Und Tom setzte die Tradition fort, die Großmutter Kizzy und Hühner-George einst begründet hatten. Hinterher gab es allerlei Gelächter: wehe, wenn jemand vergessen sollte, die Familienchronik einem gerade geborenen Kind ordnungsgemäß zu erzählen – dem würde schnurstracks der Geist von Großmutter Kizzy heimleuchten!
Doch bald trat all die Aufregung um Tom und Irenes zweites Kind in dem Maß zurück, wie die rasch voranschreitenden Geschehnisse des Krieges an Gewichtigkeit zunahmen. Während Tom eifrig Pferde und Maultiere beschlug und Werkzeug reparierte, konnte er kaum die Gespräche der weißen Kundschaft überhören, die draußen vor seiner Werkstatt jeden neuen Bericht über die Erfolge der konföderierten Truppen mit Jubel begrüßte – was ihn natürlich mit Enttäuschung erfüllte. Besonders ein »Bull Run« genanntes Gefecht erregte die Leute. Man warf die Hüte in die Luft und klopfte sich begeistert die Schultern, wobei Sätze fielen wie:
»Die paar Yankees, die’s überstanden hatten, liefen wie die Hasen um ihr Leben.« Oder:
»Wenn die unsre Jungs bloß kommen hören, sieht man von ihnen nur noch ihre feigen Ärsche.«
Der Jubel wiederholte sich nach der schweren Schlappe der Yankees bei »Wilson Greek« in Missouri, und nochmals, nur kurze Zeit später, als die Truppen der Nordstaaten bei »Balls Bluff« in Virginia Hunderte von Toten auf dem Schlachtfeld zurücklassen mußten, darunter einen von Kugeln zersiebten leibhaftigen General und angeblich persönlichen Freund von Präsident Lincoln.
»Diese Weißen sind vor Freude rumgesprungen«, erzählte Tom, »und sie haben so laut gejubelt, daß Präsident Lincoln es bestimmt selbst gehört hat – und angefangen hat zu heulen.« Bei diesen Worten war der Familie selbst zum Weinen zumute.
Ende 1861, als vom Alamance County bereits zwölf Kompanien im Kampf standen, haßte es Tom geradezu, von dem zu berichten, was er immer wieder von den Weißen aufschnappte, denn es vertiefte nur die Enttäuschung seiner Familie, genauso wie seine eigene.
»Gott weiß, wann wir frei werden, wenn’s so weiterläuft«, sagte Matilda eines Sonntagnachmittags vor einem Halbkreis niedergeschlagener Gesichter. Keiner mochte dem etwas hinzufügen, bis endlich Lilly Sue das Schweigen brach, als sie ihren kränklichen Sohn Uriah von der Brust nahm: »Freiheit und all dies Gerede drum! Ich laß alle Hoffnung sausen!«
Dann, an einem Frühlingsnachmittag 1862,
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