Wurzeln
geschah, die zu schwach oder feige waren, jene Prüfungen zu bestehen, mit denen man aus Knaben Jäger und Krieger machte, alles innerhalb von zwölf Monden. Wenn er nun versagte? Er hatte gehört, daß solche Versager zeitlebens behandelt wurden wie Kinder, obwohl sie doch erwachsen waren. Man würde ihm aus dem Weg gehen, er würde nicht heiraten, keine Söhne zeugen dürfen, die werden würden wie er. Kunta hatte gehört, daß solche bedauernswerten Geschöpfe sich früher oder später aus ihren Dörfern fortstahlen auf Nimmerwiedersehen, daß ihr Name nicht einmal von Eltern und Geschwistern mehr erwähnt wurde. Schon sah Kunta sich wie eine räudige Hyäne heimlich das Dorf verlassen, von allen verachtet. Der Gedanke war einfach unerträglich.
Nach einer Weile hörte Kunta sehr gedämpft Musik und den Lärm der Tanzenden. Es verging viel Zeit. Wie spät es wohl sein mochte? Wohl schon sutoba , die Stunde vor Tagesanfang. Aber da hörte er den alimamo mit seiner Fistelstimme die Gläubigen zum safo -Gebet rufen, zwei Stunden vor Mitternacht! Die Musik verstummte, und Kunta wußte: Das Fest ist unterbrochen, die Männer eilen zur Moschee.
Kunta wartete. Das Gebet mußte längst zu Ende sein, und doch ging die Musik nicht wieder an. Er lauschte angestrengt, vernahm aber nichts. Nun nickte er ein, schrak aber gleich wieder auf. Es war immer noch ganz still, und unter der Kapuze schwärzer als in mondloser Nacht. Endlich hörte er das Fiepen der Hyänen, wie sie es von sich geben, bevor sie mit dem eigentlichen Heulen beginnen, das sie bis zur Morgendämmerung fortsetzen. Es klang gespenstisch fern.
Kunta wußte, daß die tobalo- Trommel während des Erntefestes bei Tagesanbruch ertönte, und darauf wartete er nun. Es mußte doch endlich etwas passieren! Er fühlte sich zornig werden, er wartete ungeduldig auf das Dröhnen der Trommel, doch geschah nichts. Er knirschte mit den Zähnen und wartete weiter. Schließlich, nach längerem Dösen, schlief er richtig ein. Als die tobalo- Trommel endlich erdröhnte, wäre er beinahe vom Schemel gefallen, und er schämte sich dafür, daß er geschlafen hatte.
Kunta hatte sich bereits daran gewöhnt, daß er nichts sehen konnte, verfolgte aber mit dem Gehör nur um so aufmerksamer die morgendlichen Geräusche: das Krähen der Hähne, das Gebell der wuolo -Hunde, den klagenden Ruf des alimamo , das dumpfe Geräusch, mit dem die Frauen im Mörser das Frühmahl zubereiteten. Er wußte, das heutige Frühgebet zu Allah würde die Bitte enthalten, sich der Jünglinge anzunehmen, die nun das Dorf verlassen und es erst wieder als Männer betreten sollten. Er vernahm in der Hütte ein Geräusch und wußte, das war seine Mutter. Sehen konnte er sie nicht, doch merkwürdigerweise wußte er mit Sicherheit, daß sie es war. Wie es wohl Sitafa und den anderen ging? Wie sonderbar, daß er erst jetzt an sie dachte, und nicht ein einziges Mal während der ganzen langen Nacht! Gewiß war ihnen die Nacht ebenso lang geworden wie ihm.
Draußen ließen sich jetzt kora und balafon vernehmen, Menschen gingen hin und her, der Lärm nahm zu. Nun mischten sich Trommeln hinein, scharf und rhythmisch. Gleich darauf spürte Kunta, daß jemand die Hütte betrat, und sein Herz stockte. Ehe er sich besinnen konnte, fühlte er sich an den Handgelenken gepackt und zur Hütte hinausgezerrt, wo ihn ohrenbetäubender Lärm empfing. Man stieß und trat ihn, und er nahm sich vor, auf alle Fälle einen Fluchtversuch zu unternehmen, doch fühlte er plötzlich den starken, aber tröstenden Druck einer Hand. Schwer unter der Kapuze nach Luft ringend, begriff Kunta plötzlich, daß er nicht mehr gestoßen und getreten wurde, daß der Lärm nachgelassen hatte, und er dachte: jetzt sind sie zu einer anderen Hütte gegangen. Die Hand, die ihn führte, dürfte die des Sklaven sein, den Omoro wie alle Väter gedungen hatte, um den Sohn zum jujuo zu geleiten.
Wurde ein neues junges Opfer aus einer Hütte hervorgezerrt, schwoll der Lärm neuerlich an, und Kunta bedauerte keinen Moment, daß er die kankurang- Tänzer nicht sehen konnte, die markerschütternde Schreie ausstießen und furchterregende Sprünge vollführten, wobei sie ihre Speere schwenkten. Alle verfügbaren Trommeln waren nun in Tätigkeit, und begleitet von diesem Lärm schritt Kunta, geführt von fremder Hand, zwischen Menschen hindurch, die ihm zuriefen: »In vier Monden bist du wieder da!« – »Werde ein Mann!« und ähnliches. Kunta hätte gern
Weitere Kostenlose Bücher