Wurzeln
wollte jetzt keine Worte machen. Kunta jedoch hätte ihr gern gesagt, wie sehr er sie vermißt hatte und wie glücklich er war, wieder daheim zu sein. Doch fand er die Worte nicht. Außerdem sagte ein Mann so etwas nicht zu einer Frau, auch nicht zur eigenen Mutter.
»Wo ist mein Vater?« fragte er endlich.
»Er schneidet Riedgras für das Dach deiner Hütte«, antwortete Binta, und erst jetzt fiel Kunta wieder ein, daß er als Mann ja nun eine Hütte für sich bewohnen würde. Er eilte also zu der Stelle, wo, wie der Vater ihm oft gesagt hatte, das beste Gras für Flechtdächer wuchs.
Omoro sah ihn kommen, und Kunta pochte das Herz, als der Vater auf ihn zukam. Sie schüttelten einander nach Männerart die Hand, sahen sich tief ins Auge, zum erstenmal von Mann zu Mann. Kunta wurde fast schwach dabei, und sie schwiegen ein Weilchen. Dann endlich sagte Omoro sehr beiläufig, als äußere er sich übers Wetter, er habe für Kunta eine Hütte erworben, deren Vorbesitzer wegen Heirat ausgezogen sei. Ob er die Hütte sehen wolle? Kunta stimmte leise zu, und sie gingen zu ihr. Unterwegs bestritt Omoro die Unterhaltung fast allein, denn Kunta hatte immer noch Mühe, Worte zu finden.
Die Lehmwände der Hütte waren ebenso ausbesserungsbedürftig wie das Dach, doch daran nahm Kunta nicht Anstoß, denn die Hauptsache war, er würde die Hütte allein bewohnen. Zudem lag sie durch das ganze Dorf getrennt von der Hütte seiner Mutter. Selbstverständlich ließ er sich nicht anmerken, wie zufrieden er mit der Hütte war, und sagen tat er schon gar nichts. Er begnügte sich damit, zu erklären, er wolle die Reparaturen selber ausführen. Omoro stimmte zu: Kunta möge die Wände ausbessern, er selber aber wolle die am Dach begonnene Arbeit fortführen. Damit machte er kehrt und ging wieder dahin, wo das besonders geeignete Gras wuchs, und ließ einen Kunta zurück, der dankbare Bewunderung dafür empfand, wie der Vater den neuen Umgangston zwischen ihnen doch so selbstverständlich getroffen hatte.
Den Nachmittag verbrachte Kunta auf einem ausgedehnten Bummel durchs Dorf; er weidete sich förmlich am Anblick der bekannten Gesichter und Plätze – dem Dorfbrunnen, dem Schulhof, dem Affenbrotbaum und dem Kapokbaum. Wie heimwehkrank er gewesen war, wurde ihm erst klar, als er bemerkte, wie wohl es ihm tat, von allen begrüßt zu werden, an denen er vorüberging. Die Zeit wurde ihm lang. Er wartete ungeduldig auf die Rückkehr Lamins vom Ziegenhüten, und es drängte ihn, einen ganz bestimmten Menschen aufzusuchen, auch wenn dieser Mensch eine Frau war und sich das für ihn jetzt nicht mehr schickte. Er ging also zu der kleinen verwitterten Hütte von Nyo Boto und rief von draußen: »Großmutter!«
»Wer ist da?« fragte eine gereizte, brüchige Stimme.
»Rate mal, Großmutter«, sagte Kunta und trat auch gleich ein. Erst mußten sich seine Augen an das drinnen herrschende Halbdunkel gewöhnen, dann sah er die alte Frau neben einem Krug hocken, in dem Baumrinde eingeweicht war, von der sie jetzt Fasern zupfte. Sie spähte scharf nach ihm hin und sagte erst nach einem Weilchen: »Ja – Kunta!«
»Wie freue ich mich, dich zu sehen, Großmutter.«
Nyo Boto wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. »Geht es deiner Mutter gut?« fragte sie, und Kunta versicherte, es sei so. Er war etwas betroffen, denn sie tat ganz, als wäre er überhaupt nicht fort gewesen, als hätte sie nicht bemerkt, daß er unterdessen ein Mann geworden war.
»Ich habe oft an dich gedacht, während ich fort war«, sagte er, »und dann jedesmal den Talisman angefaßt, den du mir geschenkt hast.«
Die alte Frau brummte nur, sie blickte nicht einmal auf.
Er entschuldigte sich für die Störung und ging hinaus, schwer gekränkt und völlig verwirrt. Erst viel später begriff er, daß diese Zurückweisung sie viel mehr als ihn geschmerzt hatte, aber ihr blieb nichts weiter übrig, als zu handeln wie eine Frau gegenüber einem Mann, der nicht mehr bei ihr Trost und Rat suchen darf.
Kunta war noch tief in Gedanken, als er auf dem Rückweg den vertrauten Lärm vernahm, den heimkehrende Hirten, Ziegen und Hunde machen. Richtig, der zweite kafo kam von der Weide. Lamin mußte darunter sein, und Kunta hielt nach ihm Ausschau. Als der Bruder ihn erblickte, kam er freudig juchzend auf ihn zugestürmt und strahlte über das ganze Gesicht. Als er allerdings Kuntas kühle Miene sah, blieb er einige Schritte vor ihm stehen. Die Brüder sahen einander an. Schließlich sprach
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