Wurzeln
Lippen spürte. Er zuckte vor der Berührung dieser bleichen Hände zurück; lieber hätte er die Peitsche gespürt. Die fahle Blässe der toubob -Gesichter im Lampenschein würde er wohl ebensowenig jemals vergessen können wie den Gestank um ihn her.
Kunta ahnte nicht, ob er sich nun zwei oder sechs Monde oder gar schon einen ganzen Regen im Bauch dieses Kahns befand; Schmutz und Fieber verdrängten alle anderen Eindrücke. Der Mann, der neben dem Luftschacht gelegen und die Tage gezählt hatte, war gestorben, und die Überlebenden unterhielten miteinander keine Verbindung mehr.
Einmal empfand Kunta, aus dem Halbschlaf auffahrend, sehr deutlich die Nähe des Todes. Er litt große Angst, bis er die Ursache erkannte: das vertraute pfeifende Atmen seines Kettengenossen war verstummt. Es dauerte lange, bis er sich überwinden konnte, den Arm seines Nachbarn zu berühren. Er fuhr entsetzt zurück – der Arm war kalt und starr. Kunta erschauerte. Der Wolof mochte ein Ungläubiger gewesen sein, doch sie hatten miteinander gesprochen, nebeneinander gelegen. Und jetzt war er allein.
Als die toubobs das nächste Mal herunterkamen und gekochten Mais brachten, kroch Kunta förmlich in sich hinein. Sie kamen näher; einer rüttelte den toten Wolof und fluchte. Wie üblich wurde ein Napf zwischen Kunta und den reglos liegenden Wolof geschoben. Dann gingen die toubobs weiter. So hungrig Kunta auch war, er konnte nichts essen.
Später machten zwei toubobs Fuß- und Handgelenk des Wolof von Kunta los. Entsetzt hörte er, wie der Tote von der Pritsche heruntergerissen, den Gang entlanggeschleift und die Treppen hinaufgezerrt wurde. Er wollte von der freien Stelle wegrücken, doch wenn er sich bewegte, schmerzte ihn das über die Planken scheuernde rohe Fleisch so sehr, daß er schreien mußte. Er blieb still liegen und ließ den Schmerz verebben. Im Geist hörte er die Totenklage der Frauen im Dorf des Wolof. »Toubob fa!« schrie er in das stinkende Dunkel hinein, und seine gefesselte Hand klirrte mit der Kette an der leeren Handschelle des Wolof.
Beim nächsten Aufenthalt an Deck begegnete Kuntas Blick dem eines toubob , der ihn und den Wolof geschlagen hatte. Sie sahen einander ganz kurz in die Augen, und obwohl sich das Gesicht des toubob vor Haß verkrampfte, fiel diesmal keine Peitsche auf Kuntas Rücken. Bei dieser Gelegenheit sah er auch die Frauen zum erstenmal seit dem Unwetter. Es betrübte ihn, daß von den ursprünglich zwanzig nur noch zwölf übrig waren, doch stellte er erleichtert fest, daß alle vier Kinder noch lebten.
Die Männer wurden nicht mehr abgeschrubbt, denn ihre Wunden ließen das nicht zu. So tanzten sie nur lustlos in ihren Ketten, bloß von der Trommel begleitet, denn der toubob , der den Balg gedrückt hatte, war nicht da. Die Frauen taten singend kund, daß eine Menge toubobs in weiße Tücher eingenäht und ins Meer geworfen worden waren.
Während der weißhaarige toubob mit seiner Salbe und Flasche schon recht müde zwischen den Gefangenen umherging, stürzte ein Schwarzer mit den leeren Schellen eines toten Gefährten an Hand und Fuß zum Zaun. Er war schon halb darüber, als ein toubob ihn einholte und die nachschleifende Kette zu fassen bekam. Der Körper des Ausreißers prallte gegen die Außenwand des Kahns, und an Deck vernahm man sein ersticktes Geheul. Kunta hörte aus dem Geschrei einige toubob- Wörter heraus, und tatsächlich flüsterten auch andere Schwarze aufgeregt miteinander. Das also war der zweite slati. Jetzt baumelte er an der Außenwand, brüllte abwechselnd um Gnade und »Toubob fa!«. Der Weißhaarige trat an den Zaun und blickte hinunter, nahm dem anderen toubob die Kette weg und ließ den slati ins Meer fallen. Dann fuhr er, ohne ein Wort zu verlieren, mit dem Einschmieren und Bepudern der Wunden fort, als wäre nichts geschehen.
Die Gefangenen wurden jetzt weniger oft gepeitscht, und es schien fast, als hätten die Bewacher Angst vor ihnen. Wurden sie an Deck gebracht, hielten die toubobs sie dicht umringt, Feuerstöcke und gezogene Messer in Bereitschaft, als könnten die Gefesselten sie jeden Augenblick angreifen. Was Kunta betraf, so haßte er die toubobs zwar von ganzer Seele, dachte aber nicht mehr daran, welche zu töten. Er war so krank und schwach, daß es ihm einerlei war, ob er lebte oder starb. An Deck legte er sich auf die Seite und schloß die Augen. Der weißhaarige toubob schmierte wieder Salbe auf seinen Rücken, doch dann spürte er eine
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