Wurzeln
Zeitlang nichts mehr als die Wärme der Sonne und roch die frische Seeluft. Die Schmerzen nahmen ab, und ihn erfüllte eine fast wonnevolle Todeserwartung. Bald würde er bei den Vorfahren sein.
Im Laderaum hörte Kunta gelegentlich Flüstern. Worüber da wohl gesprochen wurde? Und wozu? Sein Kettengenosse lebte nicht mehr, und gestorben waren auch die, die für die anderen übersetzt hatten. Das Sprechen kostete ohnehin zuviel Kraft. Jeder Tag dünkte Kunta ein wenig schlimmer, und daß andere noch schlechter dran waren, war kein Trost. Manche Gefangenen schieden jetzt eine Mischung von geronnenem Blut und dickem, graugelbem, scheußlich riechendem Schleim aus.
Als die toubobs das eklige Zeug zum erstenmal rochen und sahen, wurden sie ganz aufgeregt. Einer stürzte die Lukentreppe hinauf, und Minuten später kam der Weißhaarige herunter. Nach Luft ringend, befahl er, die jammernden Männer loszumachen und hinaufzuschaffen. Bald kamen toubobs mit Lichtern, Hacken, Bürsten und Eimern. Kotzend und fluchend kratzten, schabten und scheuerten sie die Pritschen, auf denen die Kranken gelegen hatten. Dann gossen sie kochenden Essig darauf und verlegten die Pritschennachbarn auf freie Plätze weiter weg.
Aber nichts half, die blutige Seuche breitete sich aus. Bald wand auch Kunta sich unter Schmerzen im Kopf und im Rücken, schwitzte und zitterte abwechselnd unter Fieberschauern und spürte schließlich, wie sich sein Leib verkrampfte und stinkiges, schleimiges Blut von sich gab. Er glaubte, seine Gedärme müßten herauskommen, und verlor vor Schmerzen fast die Besinnung. Verblüfft hörte er sich schreien: »Omoro – Omar der zweite Kalif, der dritte nach Mohammed dem Propheten! Kairaba – Kairaba heißt Frieden!« Er wurde heiser und konnte sich im allgemeinen Lärm nicht mehr schreien hören. Innerhalb von zwei Tagen ergriff die Seuche fast alle Gefangenen.
Klumpiges Blut rann von den Pritschen in die Gänge, und die toubobs traten zwangsläufig hinein, wenn sie kotzend und fluchend herunterkamen. Die Schwarzen wurden jetzt täglich an Deck gelassen, während die toubobs den Laderaum mit Schwaden von Teer- und Essigdämpfen zu reinigen suchten. Kunta und seine Gefährten taumelten durch die Luken an die Luft und fielen sogleich auf die Planken, welche bald beschmutzt waren von dem Blut aus ihren Wunden und ihrem Kot. Der Geruch frischer Luft ging Kunta durch und durch, ebenso der Essig- und Teergeruch später im Laderaum. Den Seuchengestank konnte er allerdings nicht vertreiben.
Im Fieber sah Kunta Großmutter Yaisa, wie sie zum letztenmal mit ihm sprach, als er ein kleiner Junge war; er sah die alte Nyo Boto und hörte die Geschichten, die sie erzählte, als er im ersten kafo gewesen war, zum Beispiel die von dem gefangenen Krokodil, das von einem Knaben befreit wurde. Wenn die toubobs in seine Nähe kamen, trat und schlug er stöhnend um sich.
Bald waren die meisten Gefangenen nicht mehr imstande zu gehen; toubobs mußten ihnen durch die Luke hinaufhelfen, damit der Weißhaarige bei Tageslicht seine nutzlose Salbe auftragen konnte. Jeden Tag starb jemand und wurde ins Meer geworfen, auch einige Frauen und zwei Kinder sowie etliche toubobs. Von denen konnten sich manche kaum noch herumschleppen, und einer, der das große Rad des Kahns drehte, stand dabei in einem Kübel und machte unter sich.
Eines Tages gewahrte Kunta erstaunt, daß der Kahn auf einem wogenden Teppich von goldfarbenem Seetang schwamm, der das Meer bedeckte, so weit das Auge reichte. Kunta wußte, daß das Wasser irgendwo aufhören mußte, und jetzt sah es so aus, als ob der Kahn über den Rand der Welt stürzen wollte – aber es kümmerte ihn nicht eigentlich. Er ahnte, daß seine Reise sich dem Ende näherte, er wußte nur noch nicht, auf welche Weise er sterben würde.
Verschwommen nahm er wahr, daß die großen weißen Tücher schlaff herabhingen, nicht mehr vom Wind gebläht waren. Über ihm rissen die toubobs geschäftig an Stricken, zogen die Tücher hierhin und dorthin, um die schwache Brise einzufangen. Sie zogen Eimer voll Wasser hinauf und bespritzten damit die großen Tücher. Doch der Kahn blieb auf der Stelle liegen und schlingerte nur ein wenig.
Die toubobs waren jetzt alle sehr gereizt, der Weißhaarige schrie sogar seinen narbengesichtigen Gehilfen an, der seinerseits die untergebenen toubobs heftiger beschimpfte und schlug als gewöhnlich, und diese stritten häufiger untereinander. Die Gefangenen wurden, von seltenen
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