Wurzeln
Ausnahmen abgesehen, nicht mehr geschlagen, sie verbrachten jetzt den ganzen Tag an der Luft und bekamen zu Kuntas Erstaunen jeden Tag eine Kelle Wasser.
Eines Morgens lagen Hunderte von fliegenden Fischen auf den Deckplanken. Die Frauen berichteten, daß die toubobs am Abend zuvor Lichter angezündet hatten, um die Fische anzulocken. Diese wurden nun mit Mais gekocht, und der Geschmack des frischen Fisches tat Kunta gut. Er schlang alles hinunter samt den Gräten.
Bei der nächsten Behandlung mit dem brennenden gelben Pulver bekam Kunta von dem Weißhaarigen einen dicken Verband um die rechte Schulter. Kunta schloß daraus, daß dort der Knochen bloßlag, wie bei so vielen seiner Gefährten, besonders bei den hageren, die kein Fleisch auf dem Leib hatten. Unter dem Verband schmerzte die Schulter noch schlimmer als zuvor, er sog sich aber bald mit Blut voll und löste sich von allein. Kunta war es gleichgültig. Manchmal dachte er an die Greuel, die er erlebt hatte, dann wieder gab er sich dem abgrundtiefen Haß auf alle toubobs hin, meist aber lag er stumpf in der stinkenden Dunkelheit, die Augen verklebt von gelblichem Schleim, und merkte kaum, daß er lebte.
Er hörte andere schreien oder Allah um Erlösung bitten, wußte aber nicht, wer sie waren, und es kümmerte ihn auch nicht. Immer wieder sank er stöhnend in unruhigen Schlaf und sah wirre Bilder: die fruchtbaren grünen Felder von Juffure; Fische, die springend die glasige Oberfläche des bolong durchbrachen; fette Antilopenschinken über glühenden Kohlen röstend; Kalabassen voll honigsüßem Tee. Manchmal erwachte er davon, daß er bittere, zusammenhanglose Drohungen ausstieß oder darum bat, noch ein einziges Mal die Seinen zu sehen. Omoro, Binta, Lamin, Suwadu, Madi lagen ihm wie Steine auf der Seele. Ihn quälte der Gedanke, daß er ihnen Kummer bereitet hatte. Er zwang sich, an anderes zu denken, doch es half nichts. Früher oder später kehrten seine Gedanken zu ihnen zurück, oder er stellte sich die Trommel vor, die er hatte machen wollen. Er malte sich aus, wie er nachts während der Wache auf dem Erdnußfeld darauf übte, wo niemand hörte, wenn ihm Fehler unterliefen. Doch war ihm ja gerade die Suche nach dem Holz für die Trommel zum Verhängnis geworden, und wenn er daran dachte, überfielen ihn die grauenhaften Erinnerungen an alles Folgende.
Von den Überlebenden war Kunta einer der wenigen, die noch ohne Hilfe von der Pritsche steigen und hinauf an Deck gehen konnten. Doch schließlich versagten auch ihm die Beine den Dienst, und er mußte halb hinaufgezogen, halb getragen werden. Leise stöhnend, den Kopf zwischen die Knie hängen lassend, die entzündeten Augen fest geschlossen, hockte er sterbensmatt da, bis er mit der Säuberung an der Reihe war. Die toubobs benutzten jetzt einen großen, weichen Schwamm, weil die harten Borsten der Bürste die zerschundenen, blutenden Rücken der Männer noch ärger zugerichtet hätten. Kunta ging es dabei immer noch besser als den meisten anderen, die nur noch auf der Seite liegen konnten und kaum noch atmeten.
Einzig die restlichen Frauen und Kinder waren noch einigermaßen gesund; sie waren nicht gefesselt und im Dunkeln angekettet gewesen bei Schmutz und Gestank, Läusen, Flöhen, Ratten und Seuchen. Die älteste Frau, sie mochte so viele Regen erlebt haben wie Binta, hieß Mbuto und war eine Mandinka aus dem Dorf Kerewan. Ihre Haltung war so edel und würdig, daß sie, obwohl nackt, ein Gewand zu tragen schien. Die toubobs hinderten sie nicht, zwischen den angeketteten Männern umherzugehen, ihnen Trost zuzusprechen und die Hand auf eine fieberheiße Brust oder Stirn zu legen. »Mutter! Mutter!« wisperte Kunta, als er ihre beruhigenden Hände spürte, und ein anderer, zu schwach zum Sprechen, verzog nur den Mund zu einem Lächeln.
Schließlich konnte Kunta nicht einmal mehr ohne Hilfe essen. Seine Schulter- und Ellenbogenmuskeln waren völlig abgezehrt. Er vermochte nicht mehr, die Hände zu heben, in den Eßnapf zu greifen. Oft wurde jetzt das Essen oben an Deck verteilt, und eines Tages fiel dem narbengesichtigen toubob auf, daß Kunta den Napf kaum halten konnten. Er ordnete an, daß Kunta der Brei durch ein Rohr in den Mund gefüllt wurde. Kunta würgte das Essen hinunter und streckte sich erschöpft hin.
Die Tage wurden immer heißer, und selbst an Deck waren in der unbeweglichen Luft alle in Schweiß gebadet. Tage später spürte Kunta den Hauch einer kühlen Brise. Die weißen
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