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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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große Ähnlichkeit mit ihm selbst. Das Gesicht, das von der Spitze des fünfzehn Meter hohen Standbilds auf ihn herabsah - dieses von langem Silberhaar gerahmte Gesicht mit den irr blickenden Augen und dem rotbraunen Amorbogen des Mundes -, war sein eigenes.
     
    Er wurde erwartet. Die Nachricht von dem Doppelgänger des Commanders war dem Shuttle-Hubschrauber vorausgeeilt. Hier im Theater der Masken wurde das Original, der Mann ohne Maske, als Imitator der Maske empfunden: Das Geschöpf war real, während der Schöpfer eine Fälschung war! Es war, als wäre er beim Tod Gottes anwesend und als wäre der Gott, der gestorben war, er selbst. Vor der Tür des Shuttle erwarteten ihn maskierte Männer und Frauen mit Schnellfeuerwaffen. Er begleitete sie widerstandslos.
    Er wurde in einen Transitraum gebracht, wo es keinen Stuhl, sondern nur einen ramponierten Holztisch gab, aufmerksam beobachtet von den starr blickenden Augen einer Eidechse, während durstige Fliegen der Tränenflüssigkeit in seinen Augenwinkeln bedrohlich nahe kamen. Eine Frau, deren Gesicht hinter einer Maske mit dem Gesicht der Frau, die er liebte, versteckt war, nahm ihm Paß, Uhr und Flugticket ab. Betäubt von der lärmenden Marschmusik, die mit voller Lautstärke über ein primitives Lautsprechersystem in den ganzen Flughafen übertragen wurde, entging ihm nicht der enthusiastische, Angst einflößende Ton in den Stimmen seiner Wachen - denn er war von schwerbewaffneten Guerilleros umgeben -, und in den nervösen Blicken der unmaskierten Zivilisten im Flughafengebäude und den zerfahrenen Bewegungen der maskierten Kombattanten erkannte er ebenfalls Anzeichen für die extreme Instabilität der Lage. Das alles führte Solanka lebhaft vor Augen, daß er sich weit aus seinem vertrauten Umfeld hinausgewagt und alle Zeichen und Codes zurückgelassen hatte, die seinem Leben Sinn und Form verliehen hatten. Hier existierte Professor Malik Solanka nicht als er selbst, als Mann mit einer Vergangenheit und Zukunft, umgeben von Menschen, denen sein Schicksal nicht gleichgültig war. Hier war er lediglich ein lästiger Niemand mit einem Gesicht, das alle kannten, und wenn er diese verblüffende Physiognomie nicht sehr schnell in einen Vorteil zu verwandeln verstand, würde sich seine Lage verschlechtern und im günstigsten Fall zu seiner frühen Deportation führen. Über die allerschlimmsten Konsequenzen nachzudenken weigerte er sich. Die Vorstellung, abgeschoben zu werden, ohne in Neelas Nähe gekommen zu sein, war ärgerlich genug. Wieder einmal bin ich nackt, dachte Solanka. Nackt und dumm. Weil ich direkt in den drohenden Knockoutschlag hineingelaufen bin.
    Nach über einer Stunde hielt ein australischer Holden-Kombi vor dem Schuppen, in dem er festgehalten worden war, und Solanka wurde eher unsanft, doch ohne überflüssige Brutalität aufgefordert, hinten einzusteigen. Rechts und links neben ihm nahmen Guerilleros im Kampfanzug Platz; zwei weitere stiegen in den Kofferraum, wo sie sich mit dem Rücken zu ihm hinsetzten und die Läufe ihrer Waffen durchs Fenster der Heckklappe schoben. Auf der Fahrt durch Mildendo hatte Malik Solanka ein seltsames Dejá-vu-Gefühl, und es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, daß ihn die Situation an Indien erinnerte. Genauer gesagt, an Chandni Chowk, das von Unruhen geplagte Herz Old Delhis, wo die Händler auf die gleiche Art eng beieinanderhockten, wo die Ladenfassaden genauso bunt und die Innenräume so grell beleuchtet waren, wo auf der Straße die Masse der Fußgänger, Radler, Drängier und Schreihälse noch dichter gedrängt wogte, wo Tiere und Menschen um Raum kämpften und wo zahllose Autos mit ihren Hupen die alltägliche, immergleiche Symphonie der Straße aufführten. Eine so dichte Menschenmenge hatte Solanka nicht erwartet. Leichter vorauszusagen und dennoch nervtötend war das spürbare Mißtrauen zwischen den beiden Volksgemeinschaften, den murrenden Gruppen von Elbee- und Indo-Lilly-Männern, die einander finster musterten, das Gefühl, auf einem Pulverfaß zu sitzen und auf die Explosion zu warten. Das waren das Paradoxon und der Fluch aller kommunalen Probleme: Wenn sie auftraten, waren es Freunde und Nachbarn, die kamen, um dich zu töten, dieselben Menschen, die dir vor ein paar Tagen noch geholfen hatten, deinen Motorroller zu starten, und die sich über die Süßigkeiten freuten, die du verteilt hattest, als deine Tochter sich mit einem netten, gebildeten Mann verlobte. Der Inhaber des

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