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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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neigte höflich zustimmend den Kopf. »Es gehört sich nicht«, setzte der Beamte seltsamerweise hinzu, »die Bevölkerung eines Landes, in dem Sie nur zu Gast und von unserer berühmten Toleranz und unserem guten Willen abhängig sind, derart irrezuführen.« Er machte eine befehlende Geste in Richtung Solanka, der gehorsam seine Koffer öffnete. Der Zollbeamte musterte rachsüchtig den Inhalt: die sauber gepackten vierzehn Paar Socken, vierzehn Unterhosen, vierzehn Taschentücher, drei Paar Schuhe, sieben Hosen, sieben Hemden, sieben Buschhemden, sieben Polohemden, drei Krawatten, drei sauber gefaltete, mit Seidenpapier geschützte Leinenanzüge und für alle Fälle sogar einen Regenmantel. Nach einer nachdenklichen Pause zeigte er ein breites Lächeln, das zwei Reihen perfekter Zähne bloßlegte und Solanka umgehend mit Neid erfüllte. »Hoher Zoll fällig«, erklärte der Beamte strahlend. »So viele zollpflichtige Gegenstände.« Solanka runzelte die Stirn. »Das sind nur meine Kleider. Sie werden die Leute doch nicht dafür bezahlen lassen, daß sie mitbringen, was sie benötigen, um ihre Nacktheit zu bedecken.« Der Zollbeamte hörte auf zu lächeln und legte die Stirn in noch drohendere Falten als Solanka. »Obszöne Ausdrücke sind zu vermeiden, bitte, Mr. Trickster«, belehrte er ihn. »Hier ist viel, das keine Kleidung ist. Hier ist eine Videokamera, außerdem Armbanduhren, Kameras, Schmuck. Hoher Zoll fällig. Wenn Sie Protest einlegen wollen, ist das natürlich Ihr demokratisches Recht. Sie sind hier in Free Indian Lilliput-Blefuscu: Filbistan! Falls Protest gewünscht wird, dürfen Sie natürlich gern im Vernehmungsraum Platz nehmen und alle Punkte mit meinem Boss besprechen. Er wird schon sehr bald Zeit für Sie haben. Vierundzwanzig, sechsunddreißig Stunden.« Solanka verstand. »Wieviel?« fragte er und bezahlte. In einheimischen Sprugs klang die Summe enorm, umgerechnet waren es jedoch achtzehn Dollar und fünfzehn Cent. Mit einer ausholenden Geste malte der Zollbeamte mit Kreide ein großes X auf Solankas Koffer. »Sie kommen in einem großen, historischen Moment«, erkärte er Solanka wichtigen Tones. »Die indische Bevölkerung von Lilliput-Blefuscu ist endlich für ihre Rechte eingetreten. Unsere Kultur ist uralt und überlegen und wird daher obsiegen. Das ist das Recht des Stärkeren, nicht wahr? Seit einhundert Jahren haben diese nichtsnutzigen Elbee-Kannibalen Grog getrunken - Kava, Glimigrim, Flunex, Jack Daniels und Coke, alle möglichen gottlosen Getränke - und uns gezwungen, ihre Scheiße zu fressen. Jetzt können sie statt dessen die unsere fressen. Bitte sehr: Genießen Sie Ihren Aufenthalt.«
    In dem Shuttle-Hubschrauber, der ihn nach Mildendo auf der Insel Lilliput brachte, starrten die anderen Passagiere Professor Solanka genauso ungläubig an wie zuvor der Zollbeamte. Er beschloß, ihr Verhalten zu ignorieren, und wandte seine Aufmerksamkeit der Landschaft unter sich zu. Als sie über die Zuckerplantagen von Blefuscu flogen, fielen ihm die hohen Haufen schwarzen Eruptivgesteins in der Mitte eines jeden Feldes auf. Früher hatten sich indische Kontraktarbeiter, nur an ihren Nummern kenntlich, kaputtgearbeitet, um dieses Land zu roden, und unter der eiskalten Aufsicht australischer Coolumbers diese Steinhaufen aufgetürmt, während sie in ihren Herzen den tiefen Groll bewahrten, der aus ihrem Schweiß und der Auslöschung ihrer Namen entstanden war. Die Steine waren Zeichen akkumulierten vulkanischen Zorns, uralte Prophezeiungen des Ausbruchs der Wut aller Indo-Lillys, dessen Auswirkungen überall zu sehen waren. Der klapprige LB-Air-Hubschrauber landete zu Solankas unendlicher Erleichterung auf dem noch existierenden Flugfeld des ruinierten Gulbasto Gue Intercontinental Airport, und das erste, was er sah, war ein gigantisches Bild von Commander Akasz , das heißt, des FRM-Führers Babur in seiner Akasz-Kronos-Maske mit Umhang. Nachdenklich dieses Bildnis betrachtend, fragte sich Solanka mit klopfendem Herzen, ob er sich, als er diese transglobale Reise antrat, nicht doch wie ein liebestoller Idiot und politischer Naivling verhalten hatte. Denn das allgegenwärtige Bild in Lilliput-Blefuscu - einem Land dicht vor dem Bürgerkrieg, in dem der Präsident persönlich noch immer als Geisel gehalten wurde, in dem ein höchst gespannter Belagerungszustand herrschte und in dem sich jeden Moment unvorhersehbare Entwicklungen ereignen konnten - hatte, wie er sich hätte denken können, sehr

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