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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Schuhgeschäftes, neben dessen Haus du zehn Jahre lang oder mehr deinen Tabakwarenladen betrieben hattest: Das war der Mann, der den ersten Schlag führen würde, der die Männer mit den Fackeln zu deiner Tür bringen und die Luft mit süßem Virginia-Rauch füllen würde. Nirgends waren Touristen zu sehen. (Das Flugzeug nach Blefuscu war zu über zwei Dritteln leer gewesen.) Von einer überraschend großen Anzahl weiblicher FRM-Kader abgesehen, waren nur wenige Frauen auf der Straße, und überhaupt keine Kinder. Viele Geschäfte waren geschlossen und verbarrikadiert; andere blieben halbwegs geöffnet, und die Leute - Männer - gingen ihren täglichen Pflichten nach. Waffen sah man dagegen überall, und sporadisch waren auch Schüsse zu hören. Um wenigstens ein bißchen Ordnung zu wahren, kollaborierte die Polizei mit den FRM-Leuten; die Armee machte sich lächerlich und blieb in den Kasernen, obwohl die Generäle an den komplizierten Verhandlungen teilnahmen, die jeden Tag stundenlang hinter den Kulissen stattfanden. FRM-Unterhändler trafen sich mit den Elbee-Chefs sowie mit religiösen und Wirtschafts-Führern. Commander Akasz versuchte wenigstens den Eindruck eines Mannes zu machen, der nach einer friedlichen Lösung der Krise sucht. Doch unter der Oberfläche gärte der Bürgerkrieg. Skyresh Bolgolam mochte besiegt und gefangen sein, aber die meisten der Elbee-Jugendlichen, die den fehlgeschlagenen Coup der Bolgolamiten unterstützt hatten, leckten ihre Wunden und planten zweifellos ihre nächsten Manöver. Mittlerweile hatte die internationale Gemeinschaft nichts Eiligeres zu tun, als Lilliput-Blefuscu zum kleinsten Paria-Staat der Welt zu erklären, die Handelsabkommen zu stoppen und Hilfsprogramme einzufrieren. Unter diesen Umständen sah Solanka seine Chance.
    Motorradfahrer umringten den Wagen und begleiteten ihn zu der schwer bewachten Umfassungsmauer des Parlamentskomplexes. Das Tor öffnete sich, der Kombi fuhr hindurch und rollte zum Dienstboteneingang auf der Rückseite des zentralen Gebäudes. Der Hintereingang, dachte Solanka mit einem stillen, ironischen Lächeln, ist das wahre Tor zur Macht. Viele Besucher, Funktionäre oder Bittsteller, konnten die großen Paläste der Macht durch die Vordertür betreten. Aber in einen Lastenaufzug zu steigen, beobachtet von weißbemützten Küchenchefs und -souschefs, umringt von schweigenden, maskierten Männern und Frauen, gemächlich in einer kahlen Kabine emporgetragen zu werden: das war wirklich etwas Besonderes. Auf einen unauffälligen bürokratischen Korridor hinaustreten und durch eine Reihe zunehmend unprätentiöser Räume geführt werden, das hieß, den wahren Weg zum Mittelpunkt der Macht beschreiten. Nicht schlecht für einen Puppenmacher, sagte er sich. Du bist drin. Sehen wir mal, ob du mit dem wieder rauskommst, was du wolltest. Besser gesagt, sehen wir mal, ob du es überhaupt schaffst rauszukommen.
    Am Ende der Folge ineinander übergehender Hinterzimmer lag ein Raum mit einer einzigen Tür. Drinnen befand sich das inzwischen vertraute, spartanische Mobiliar: ein Schreibtisch, zwei Segeltuchstühle, eine Deckenlampe, ein Aktenschrank, ein Telefon. Man ließ ihn allein, und er wartete. Er nahm den Telefonhörer ab; es gab einen Wählton, und ein Schildchen auf dem Apparat wies ihn an, die 9 für ein Amt zu wählen. Vorsichtshalber hatte er sich mehrere Nummern herausgesucht und auswendig gelernt: die Nummern der Lokalzeitung, der amerikanischen, britischen und indischen Botschaft, einer Anwaltskanzlei. Er versuchte diese zu wählen, hörte aber jedesmal die Aufzeichnung einer weiblichen Stimme, die auf englisch, Hindi und lilliputanisch sagte: »Diese Nummer kann von diesem Apparat nicht angewählt werden.« Er versuchte, die Notrufnummern zu erreichen. Vergeblich. »Diese Nummer kann nicht angewählt werden.« Was wir hier haben, sagte er sich, ist gar kein Telefon, sondern nur die äußere Erscheinung oder auch Attrappe eines Telefons. Genau wie dieses Zimmer nur das Kostüm eines Büros trägt, in Wirklichkeit aber eine Gefängniszelle ist. Kein Türknauf an der Innenseite der Tür. Das einzige Fenster: klein und vergittert. Er trat an den Aktenschrank und zog eine Schublade heraus. Leer. Jawohl, dies war eine Bühnenkulisse, und er spielte in einem Theaterstück mit, aber niemand hatte ihm das Skript gegeben.
    Vier Stunden später kam Commander Akasz hereingerauscht. Bis dahin war Solankas restliche Zuversicht fast vollständig abhanden

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