Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
auch lauscht, hört man den Flügelschlag der dunklen Göttinnen. Tisiphone, Alecto, Megaera: die alten Griechen fürchteten sich so sehr vor ihnen, ihren grausamsten Gottheiten, daß sie es nicht mal wagten, ihren richtigen Namen auszusprechen. Nannte man diesen Namen, Erinnyen, Furien, beschwor man dadurch vielleicht sogar selbst diese Damen des tödlichen Zorns herauf. Deswegen, und mit bitterer Ironie, nannten sie die wütende Trinität die Gutmütigen: Eumeniden. Dieser euphemistische Name vermochte jedoch leider keine Verbesserung der ewig schlechten Laune der Göttinnen herbeizuführen.
     
    Anfangs suchte er der Versuchung, in Mila das fleischgewordene Braingirl zu sehen, zu widerstehen: nicht Braingirl, die hohle Neuerschaffung der Medien, nicht Braingirl, die Verräterin, das gehirnamputierte Püppchen aus der Brain Street, sondern ihr Original, das in Vergessenheit geratene B.G. aus der Anfangszeit, den Star von Braingirls Abenteuer. Zuerst sagte er sich, es wäre falsch, Mila das anzutun, sie dermaßen in eine Puppe zu verwandeln, aber - argumentierte er gegen sich selbst - hatte sie das denn nicht selbst getan, hatte sie nicht durch ihr eigenes Geständnis das frühe Braingirl zu ihrem Vorbild und ihrer Inspirationsquelle gemacht? Präsentierte sie sich ihm nicht eindeutig in der Rolle der Einzig Wahren, die er verloren hatte? Sie war, das wußte er jetzt, eine hochintelligente junge Frau; sie mußte vorausgesehen haben, wie ihr Auftreten bei ihm ankommen würde. Jawohl! Absichtlich, um ihn zu retten, offerierte sie ihm das Mysterium, das - wie sie irgendwie erraten hatte - seine tiefsten, obwohl niemals ausgesprochenen Wünsche erfüllte. Dann gestattete Solanka es sich allmählich und voll Schüchternheit, in ihr sein Geschöpf zu sehen, dem durch ein unerwartetes Wunder das Leben geschenkt worden war und das nun für ihn sorgte, wie es wohl eine Tochter getan hätte, die er niemals gehabt hatte. Dann verriet er sein Geheimnis durch einen Lapsus linguae, aber Mila schien nicht verärgert zu sein. Statt dessen schenkte sie ihm ein ganz persönliches, kleines Lächeln - ein Lächeln, das, wie Solanka konzedieren mußte, voll seltsamen, erotischen Vergnügens war, in dem etwas von der Genugtuung des geduldigen Anglers über den Köder lag, der endlich geschluckt wurde, und auch etwas von der verborgenen Freude der Souffleuse, wenn ein oft wiederholtes Stichwort endlich aufgenommen wird - und statt ihn zu korrigieren, antwortete sie ihm, als hätte er ihren richtigen Namen benutzt, und nicht den der Puppe. Überwältigt von einer nahezu inzestuösen Scham, errötete Malik Solanka heftig und versuchte sich stammelnd zu entschuldigen; woraufhin sie nahe an ihn herantrat, bis ihre Brüste sein Hemd berührten und er spürte, wie der Atem von ihren Lippen über die seinen strich, und sie murmelte: »Sie können mich nennen, wie Sie wollen, Professor. Wenns Ihnen guttut, dann ist das auch für mich in Ordnung.« So versanken sie täglich tiefer in ihrer Phantasie. Allein in seiner Wohnung an den verregneten Nachmittagen dieses verregneten Sommers, spielten sie ihr kleines Vater-und-Tochter-Spiel. Mila Milo begann ganz bewußt die Puppe für ihn zu sein, sich mehr und mehr genau wie die ursprüngliche Puppe zu kleiden und für den schnell erregten Solanka eine Reihe von Szenarien aus den ersten Shows zu spielen. Dann übernahm er etwa die Rolle des Machiavelli, des Karl Marx oder, am häufigsten, des Galileo, während sie, o ja, genau das war es, was er wollte; sie saß neben seinem Sessel und drückte sich an seine Füße, während er die Weisheit der großen Sagen der Welt von sich gab; und nach einer Weile zu seinen Füßen setzte sie sich auf seinen schmerzenden Schoß, obwohl sie, ohne daß ein Wort darüber verloren wurde, stets dafür sorgte, daß ein dickes Kissen zwischen ihrem und seinem Körper lag, so daß sie, wenn er, der geschworen hatte, mit keiner Frau zu schlafen, auf ihre Anwesenheit dort reagierte wie ein anderer, weniger entsagungsvoller Mann, daß sie es also nicht merken würde, daß sie es nie zu erwähnen brauchten und daß er niemals gezwungen sein würde, die gelegentliche Schwäche seines Körpers einzugestehen. Wie Gandhi seine brahmacharya-Experimente mit der Wahrheit machte, wenn er in der Nacht bei den Ehefrauen seiner Freunde lag, um die Herrschaft des Geistes über das Fleisch zu testen, wahrte er nach außen das Dekorum äußerster Schicklichkeit; genau wie sie, genauso wie

Weitere Kostenlose Bücher