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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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verstehe, warum sie Angst haben. Sie sind Kollektivisten. Das Land gehört nicht individuellen Grundbesitzern, sondern den Elbee-Häuptlingen in Vertretung des gesamten Elbee-Volkes. Und dann kommen wir Big Endia-Wallahs mit unserer erfolgreichen Geschäftspraxis, unternehmerischem Scharfsinn, freiem Handel und unserem Profitdenken. Und dann spricht die ganze Welt auch noch unsere Sprache und nicht die ihre. Wir leben im Zeitalter der Zahlen, nicht wahr? Also sind wir Zahlen, und die Elbees sind Wörter. Wir sind die Mathematik und sie die Lyrik. Wir gewinnen, und sie verlieren: Deswegen haben sie natürlich Angst vor uns, es ist wie der Kampf in der menschlichen Natur selbst, der Kampf zwischen dem, was mechanisch und utilitaristisch ist, auf der einen und dem Teil, der liebt und träumt, auf der anderen Seite. Wir alle fürchten, daß das kalte Maschinelle in der menschlichen Natur unsere Magie und unsere Lieder zerstören wird. Also ist der Kampf zwischen den Lillys und den Elbees zugleich der Kampf des menschlichen Geistes, und verdammt noch mal, ich stehe mit dem Herzen vermutlich auf der anderen Seite. Aber meine Leute sind meine Leute, und Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit, und nachdem man sich vier Generationen lang den Arsch abgearbeitet hat und immer noch wie Bürger zweiter Klasse behandelt wird, hat man das Recht, zornig zu sein. Wenn es so weit kommt, werde ich zurückkehren. Wenn es sein muß, werde ich Schulter an Schulter mit ihnen kämpfen. Das meine ich ernst, ich werde es wirklich tun.« Er glaubte ihr. Und dachte: Wie kommt es, daß ich mich in Gesellschaft dieser leidenschaftlichen Frau, die ich kaum kenne, so absolut wohl fühle?
    Die Narbe war das Ergebnis eines schweren Autounfalls auf dem Interstate Highway bei Albany; sie hätte fast ihren Arm verloren. Wie Neela selbst zugab, fuhr sie wie eine Maharani. Die anderen Benutzer der Straße sollten Zusehen, daß sie ihr gefälligst den Weg freimachten. In den Regionen, in denen sie und ihr Wagen anzutreffen waren - Blefuscu oder die Umgebung ihres feinen New-England-Colleges -, sprangen die Autofahrer, wenn sie Neela Mahendra kommen sahen, oft einfach aus ihrem Wagen und rannten davon. Nach einer Reihe kleinerer Karambolagen und Beinah-Zusammenstöße kam dann der höchst unkomische große Krach. Daß sie ihn überlebte (und zwar um Haaresbreite), war ein Wunder; daß sie ihre herzzerreißende Schönheit behielt, war noch erstaunlicher. »Die Narbe stört mich nicht«, sagte sie. »Ich kann von Glück sagen, daß ich sie habe. Und sie erinnert mich an etwas, das ich nicht vergessen sollte.«
    In New York brauchte sie zum Glück nicht zu fahren. Ihre hoheitsvolle Einstellung - »meine Mutter hat mir immer gesagt, ich sei eine Königin, und ich habe ihr das geglaubt« - bedeutete, daß sie es ohnehin bevorzugte, gefahren zu werden, obwohl sie auch noch ein schrecklicher Beifahrer war, der ständig aufschrie und aufkeuchte. Ihr schneller Erfolg im Fernsehgeschäft ermöglichte es ihr, einen Fahrdienst in Anspruch zu nehmen, dessen Fahrer sich schnell an ihre häufigen Angstschreie gewöhnten. Überdies besaß sie keinen Orientierungssinn und wußte daher - äußerst bemerkenswert für einen New Yorker - niemals, wo etwas war. Ihre Lieblingsgeschäfte, ihre bevorzugten Restaurants und Nightclubs, die Lage ihrer Aufnahmestudios und Schneideräume, die sie regelmäßig aufsuchte: Sie hätten überall sein können. »Da, wo der Wagen hält, sind sie eben«, erklärte sie Solanka beim vierten Cocktail mit großen, unschuldigen Augen. »Es ist verblüffend. Sie sind tatsächlich immer da. Direkt vor der Autotür.«
     
    Freude ist die süßeste Droge. Neela Mahendra lehnte sich in ihrer schwarzen Ledernische an ihn und sagte: »Es macht mir so großen Spaß. Ich hätte nie gedacht, daß es mit Ihnen so schön sein kann, in Jacks Wohnung haben Sie so steif gewirkt, als Sie sich dieses idiotische Spiel angesehen haben.« Ihr Kopf neigte sich seiner Schulter zu. Sie hatte die Haare heruntergelassen, so daß sie von dort, wo er saß, einen großen Teil ihres Gesichts verbargen. Sie ließ den Rücken ihrer rechten Hand langsam über den Rücken seiner linken Hand gleiten. »Manchmal, wenn ich zu viel trinke, kommt sie heraus, um zu spielen, die andere, und dagegen kann ich nichts tun. Sie übernimmt die Kontrolle, und damit hat sich’s.« Solanka war verloren. Sie nahm seine Hand in die ihre und küßte, um ihren unausgesprochenen Pakt zu besiegeln, die

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