Wut
Fingerspitzen. »Auch du hast Narben«, sagte sie, »aber du sprichst nie darüber. Ich erzähle dir all meine Geheimnisse, und du sagst kein einziges Wort. Ich frage mich, warum spricht dieser Mann niemals über seinen Sohn? Ja, natürlich hat Jack mir davon erzählt, glaubst du, ich hätte ihn nicht danach gefragt? Asmaan, Eleanor, soviel weiß ich. Wenn ich einen kleinen Jungen hätte, würde ich ständig von ihm reden. Du hast ja offenbar nicht mal ein Foto von ihm bei dir. Ich denke mir, dieser Mann hat die Frau verlassen, die viele Jahre lang seine Ehefrau war, die Mutter seines Sohnes, und selbst sein Freund weiß nicht, warum. Ich denke, er sieht aus wie ein guter Mann, ein freundlicher Mann, nicht brutal, also muß es einen guten Grund geben, vielleicht wird er es mir sagen, wenn ich offen zu ihm bin, aber, Baba, du bleibst einfach stumm. Und dann denke ich, da ist dieser Inder, ein Inder aus Indien, kein Indo-Lilly wie ich, ein Sohn der Heimat, aber das ist offenbar auch ein Tabu-Thema. Geboren in Bombay, aber er schweigt über seinen Geburtsort. Was ist mit seiner Familie? Brüder? Schwestern? Leben die Eltern, oder sind sie tot? Das weiß kein Mensch. Geht er sie jemals besuchen? Anscheinend nicht. Kein Interesse. Warum? Die Antwort muß lauten: weitere Narben. Malik, ich glaube, du hast mehr Unfälle gehabt als ich, und vielleicht hat dir irgend jemand irgendwann sehr weh getan. Aber wenn du nicht reden willst, was soll ich machen? Ich habe dir nichts mehr zu sagen. Ich kann nur sagen, ich bin hier, und wenn Menschen dir nicht helfen können, dann kann dir gar nichts helfen. Das ist alles, was ich sagen werde. Rede oder rede nicht, du hast die Wahl. Ich amüsiere mich, und außerdem ist jetzt die andere hier, also halte ich den Mund. Ich weiß nicht, warum Männer immer so viel reden müssen, wenn es doch offensichtlich ist, daß Worte nicht notwendig sind. Jetzt überhaupt nicht notwendig sind.«
12
DAS RECHT DES STÄRKEREN:
DIE ZEIT DER MARIONETTENKÖNIGE
Akasz Kronos, der große zynische Kybernetiker des Rijk, erschuf die Marionettenkönige als Reaktion auf die letzte Krise der Rijk-Zivilisation; doch wegen eines charakterlichen Makels, der ihn unfähig machte, das Wohl der Allgemeinheit im Auge zu behalten, benutzte er sie, um ausschließlich sein eigenes Überleben und sein eigenes Vermögen zu gewährleisten. Zu jener Zeit waren die Polarkappen von Galileo-I, dem Heimatplaneten des Rijk, schon fast ganz geschmolzen (am Nordpol war ein großes Stück offenes Meer gesichtet worden), und so hoch die Deiche auch gebaut waren, der Augenblick war nicht mehr fern, da die Glorie des Rijk, dieser höchsten Kultur im niedersten Land, das sich gerade des reichsten und längsten Goldenen Zeitalters seiner Geschichte erfreute, davongespült werden würde.
Die Zivilisation des Rijk geriet in Verfall. Die Künstler legten endgültig den Pinsel aus der Hand, denn wie konnte die Kunst - die wie guter Wein auf das Urteil der Nachwelt angewiesen war - erschaffen werden, wenn die Existenz dieser Nachwelt unmöglich gemacht wurde? Auch die Naturwissenschaften versagten vor dieser Herausforderung. Das galileische Sonnensystem lag in einem dunklen Quadranten nahe der Grenze unserer eigenen Galaxis, einem geheimnisvollen Gebiet, in dem nur wenige andere Sonnen glühten, und trotz des hohen Niveaus technologischer Fortschritte war es dem Rijk niemals gelungen, einen alternativen Heimatplaneten zu finden. Ein Querschnitt der eigenen Bevölkerung war, kryogenisch eingefroren, mit der Max-H., einem computergesteuerten Raumschiff, losgeschickt worden, das darauf programmiert war, seine kostbare Fracht zu wecken, sobald ein passender Planet in Reichweite seiner Sensoren kam. Als dieses Raumschiff versagte und in einigen tausend Meilen Entfernung im Weltraum explodierte, verloren die Menschen den Mut.
In dieser weit offenen, liberalen Gesellschaft ergriffen ein paar Hölle und Verdammnis predigende Fanatiker die Initiative und machten die Gottlosigkeit der Rijk-Kultur für die bevorstehende Katastrophe verantwortlich. Zahlreiche Bürger ließen sich von diesen neuen, engstirnigen Männern in den Bann ziehen. Inzwischen hörten die Wasser der Meere nicht auf zu steigen. Wenn ein Deich brach, schoß das Wasser so heftig durch die Lücke, daß manchmal weite Gebiete überflutet waren, bevor man die Reparatur beendet hatte. Die Wirtschaft kollabierte. Die Anarchie nahm zu. Die Menschen blieben zu Hause und warteten auf das
Weitere Kostenlose Bücher