Xeelee 1: Das Floss
seinem Eisen Gesellschaft zu erkaufen.
Zunächst vermutete Rees, daß Quid eine Art Anführer darstellte, doch bald wurde ihm klar, daß es hier kaum so etwas wie eine formale Hierarchie gab. Andererseits hatten einige Boneys ziemlich klar definierte Aufgabenbereiche – so war Quid zum Beispiel die Haupt-Kontaktperson für die Besucher von der Mine. Die dubiose Ökologie hingegen schien weitgehend autark und brauchte kaum organisierte Pflege. Nur die Waljagden, so schien es, veranlaßten die Bevölkerung zur Kooperation.
Rees blieb für vielleicht zwei Schichten in seiner Ecke. Dann wurde sein Durst zur unerträglichen Qual, und mit brüchiger Stimme bat er Quid um etwas zu trinken.
Der Boney lachte; doch anstatt eine Feldflasche aus seinem Bestand zu holen, winkte er Rees und verließ die Hütte.
Rees kam unbeholfen auf die Beine und folgte ihm.
Sie legten ungefähr ein Viertel des Umfangs der Mikrowelt zurück und erreichten dann eine Bruchstelle in der Oberflächenhaut. Es war ein gezacktes Loch mit etwa einem Meter Durchmesser und erinnerte unangenehm an eine verharschte Wunde. Knochensplitter standen von den Rändern ab.
Quid hockte sich vor dem Loch hin. »Du willst also etwas zu trinken, Bergmann?« fragte er mit heruntergezogenen Mundwinkeln. »Na denn, der gute alte Quid wird dir jetzt zeigen, wie du so viel essen und trinken kannst, wie du willst… allerdings ist es das, was auch wir anderen essen und trinken. Entweder das oder verhungern, Jüngelchen; und Quid wird deinem spöttischen Gesicht keine Träne nachweinen, wenn es aus seiner Hütte verschwindet. Klar?« Und dann schob er die Füße durch das Loch und schwang sich in das Innere des Planetoiden.
Aufgewühlt vor Furcht, aber mit vor Durst brennendem Hals, näherte sich Rees dem Loch und starrte hinunter.
Das Loch war voller Knochen. Ein Geruch wie von warmem Synthofleisch schlug ihm entgegen.
Rees würgte, wich aber nicht zurück. Er saß auf der Abbruchkante, versuchte den Kopf von den Ausdünstungen freizubekommen und fand schließlich eine Auflage für die Füße. Mit angehaltenem Atem stellte er sich vorsichtig hin und begann den Abstieg in das Labyrinth aus Knochen.
Es war wie das Herumklettern in einem riesigen, vorsintflutlichen Kadaver. Das durch dicke Hautschichten gefilterte Licht war braun und unheimlich. Quids glänzende Augen stachen aus der Finsternis.
Und Rees war überall von Knochen eingeschlossen.
Noch immer atemlos sah er sich um. Er kam zu dem Schluß, daß er auf einem ›Regal‹ aus Knochen stehen mußte. Sein Rücken lehnte an einem Stapel Schädel und klaffender, zahnloser Kieferknochen, und seine Hand griff in einen Haufen durcheinanderliegender Wirbelsäulen. Das schräg durch die Öffnung einfallende Sternenlicht beleuchtete einen Abschnitt mit Schädeln, gesplitterten Waden- und Schienbeinen und Brustkörben, die wie erloschene Laternen aussahen. An einer Stelle war noch ein Unterarm mit einer Kinderhand verbunden. Die Knochen waren überwiegend kahl und wiesen eine verwittert aussehende Braun- oder Gelbfärbung auf. Nur stellenweise waren noch Haut- oder Haarreste zu erkennen.
Der Planetoid war – nichts anderes als ein mit Menschenhaut bespannter Käfig aus Knochen.
Aus seinem tiefsten Inneren fühlte Rees einen Schrei emporquellen; er kämpfte ihn nieder und stieß seinen Atem in einem tiefen Seufzer aus. Dann mußte er die Luft dieser Todeszone einatmen. Sie war heiß, feucht und stank nach verwesendem Fleisch.
Als Quid ihn angrinste, wurde sein schimmerndes Zahnfleisch sichtbar. »Komm weiter, Mineur«, flüsterte er. Die Worte klangen erstickt. »Wir müssen noch ein Stück gehen.« Dann stieg er tiefer in das Innere hinab.
Nach einigen Minuten folgte ihm Rees.
Während ihres Abstiegs nahm die Schwerkraft ab, und die Anzahl der Leichen unter ihnen verringerte sich. Schließlich zog sich Rees in völliger Schwerelosigkeit durch die Knochenstruktur. Knochenfragmente, -splitter, Knöchel und Fingergelenke schlugen gegen sein Gesicht, bis er glaubte, durch eine Wolke der Verwesung zu schweben. Auf ihrem Weg ins Innere wurde das Licht schwächer, aber Rees’ Augen paßten sich an die Dunkelheit an, so daß er die morbide Umgebung immer deutlicher erkennen konnte. Die Hitze und der Gestank des verrotteten Fleisches wurden unerträglich. Er transpirierte so stark, daß sein Poncho als feuchter Klumpen am Rücken klebte, und sein Atem wurde flach und schwer. Es schien fast unmöglich, überhaupt noch
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