Xeelee 1: Das Floss
waren…
»Er ist ein Verbannter.« Gover schlug sich auf Deckers Seite. Seine kleinen Hände ballten und öffneten sich im Wechsel. »Ich habe seine Ankunft auf dem Wal mitverfolgt und ihn zu dir bringen lassen. Du hast ihn vom Floß geworfen. Jetzt ist er wieder zurück. Und er ist ein Bergmann…«
»So?« meinte Decker.
»Schick den Bastard über die Planke.«
Ein Kaleidoskop von Emotionen huschte wie Schatten über Deckers ausdrucksvolles, verwittertes Gesicht. Der Mann war erschöpft, registrierte Rees auf einmal, erschöpft von dem unerwarteten Anforderungsprofil seiner Position, erschöpft von dem Blut, den ständigen Entbehrungen, dem Leiden…
Erschöpft. Und auf der Suche nach ein paar Minuten Ablenkung.
»Du würdest ihn also in den Abgrund schicken, he?«
Gover nickte. Seine Augen waren noch immer auf Rees fixiert.
»Eine Schande, daß du während des Luftangriffs der Mineure nicht auch so mutig gewesen bist«, murmelte Decker. Gover zuckte zusammen. Ein grausames Grinsen erschien auf Deckers müdem Gesicht. »Gut, Gover. Ich schließe mich deinem Urteil an. Aber nur unter einer Bedingung.«
»Welcher?«
»Kein Balken. Für diese Schicht hat es genug feiges Töten gegeben. Nein. Laß ihn so sterben, wie ein Mann sterben sollte. Mann gegen Mann.« Geschockt weiteten sich Govers Augen. Decker trat zurück und überließ Rees und Gover ihrer Konfrontation. Eine kleine Menge versammelte sich um sie, ein Ring aus blutverschmierten Gesichtern, die nach einer Abwechslung gierten.
»Noch mehr blutige Spiele, Decker?«
»Halt’s Maul, Pallis.«
Aus den Augenwinkeln sah Rees, wie die zwei Müllhaufen – Plath und Seel – den Baum-Piloten fest an den Armen packten.
Rees schaute in Govers angstverzerrtes Gesicht.
»Decker, ich habe einen langen Weg hinter mir«, sagte er. »Und ich habe dir etwas zu sagen… etwas Wichtigeres, als du dir träumen läßt.«
Decker hob die Augenbrauen. »Wirklich? Es würde mich faszinieren, davon zu hören… später. Zuerst kämpfst du.«
Gover duckte sich, mit klauenartig gespreizten Händen.
Es schien so, als ob er keine Wahl hätte. Rees hob die Arme und versuchte sich mental auf den Kampf einzustimmen. Früher hätte er Gover sogar mit einem auf den Rücken gebundenen Arm besiegen können. Aber jetzt, nach so vielen Schichten bei den Boneys und auf dem Wal, war er sich nicht mehr sicher…
In dem Maße, wie Gover Rees’ Selbstzweifel zu spüren schien, verflog seine eigene Angst, und seine Körperhaltung straffte sich unmerklich, wurde aggressiver. »Komm schon, Minenratte!« Er ging auf Rees zu.
Rees stöhnte innerlich. Für so etwas hatte er eigentlich keine Zeit. Mach schon, denk nach; hatte er auf seiner Reise denn gar nichts gelernt? Wie würde sich ein Boney jetzt verhalten? Er erinnerte sich an die Speere, die sie mit tödlicher Präzision durch die Luft auf die Wale geschleudert hatten…
»Paß auf, Gover«, schrie jemand. »Er hat eine Waffe.«
Rees hielt noch immer die beschädigte Hasche in der Hand… und eine Idee keimte in ihm auf. »Was, damit? Gut, Gover – nur mit den Händen. Nur du und ich.« Er schloß die Augen und spürte, wie das Gravitationssensorium in seinem Magen auf den Sog des Floßes und der Plattform ansprach – und dann schleuderte er das Glas, so weit er konnte; nicht ganz senkrecht. Funkelnd glitt es durch die sternenerleuchtete Luft.
Gover fletschte die Zähne. Sie waren gleichmäßig und braun.
Rees trat vor. Der Zeitablauf schien sich zu verlangsamen, und die Welt um ihn herum fror ein; die einzige Bewegung war das Blinken des Glases in der Luft über ihm. Alles wurde hell und lebendig, als ob es von einer starken Lampe in seinen Augen angestrahlt würde. Die schiere Detailfülle überwältigte ihn: er zählte die Schweißperlen auf Govers Stirn und sah, wie die Nasenflügel des Wissenschaftler-Anwärters beim Atmen weiß zitterten. Rees’ Kehle schnürte sich zusammen, und er fühlte das Blut im Hals pulsieren; und die ganze Zeit driftete die zerstörte Flasche, klein und majestätisch, in einem perfekten Orbit durch das komplexe Schwerefeld…
Bis sie schließlich wieder Kurs auf das Deck nahm – und gegen Govers Rücken knallte.
Aufheulend ging Gover zu Boden. Einige Sekunden lang krümmte er sich auf dem Deck, und sein Blut ergoß sich ringsum über das Metall. Schließlich lag er reglos da.
Für lange Augenblicke bewegte sich niemand. Decker, Pallis und die anderen starrten schockiert auf den
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